Der lange Atem von Indiens Bauern und Bäuerinnen

Auch nach fast 6 Monaten halten die Proteste von Indiens Bäuer*innen an – sie haben bereits Millionen von Menschen mobilisiert. Während die Proteste diverser werden und sich immer mehr Inder*innen aus anderen Berufsgruppen solidarisieren, geht es für viele beteiligte Bäuer*innen bei den neuen Reformen der Landwirtschaftsgesetze um die Grundlagen ihrer Existenz.

Einer der längsten Proteste seit der Unabhängigkeit Indiens

Das gilt besonders für Landwirt*innen aus den Bundesstaaten Punjab und Haryana, der Getreidekammer Indiens, die bisher die Hauptakteure bei den Protesten in der Hauptstadt Delhi sind. Sie fürchten den Wegfall der staatlich garantierten Abnahmepreise und ein Preisdumping durch Großkonzerne. Eine Umfrage bei den ASW-Partnerorganisationen zeigt jedoch: Nicht alle Landwirt*innen sind von den neuen Gesetzen in der gleichen Weise betroffen. Die Auswirkungen der Gesetze auf die Bäuer*innen variieren je nach Region, Anbauprodukt und Landbesitz. Die unterschiedliche Situation der Bäuer*innen spiegelt sich wiederum auch in der Zusammensetzung der Protestbewegung wider.

Die neuen Agrargesetze deregulieren den Agrarmarkt

Der Auslöser für die aktuellen Proteste sind drei neue Landwirtschaftsgesetze, die von der Regierung im September 2020 verabschiedet wurden. Die Gesetze schaffen den Rahmen für eine weitreichende Deregulierung des Agrarmarktes. Zum einen ermöglichen sie, dass  landwirtschaftliche Erzeugnisse fortan auch abseits der staatlichen Märkte (Mandis) und elektronisch gehandelt werden dürfen. Darüber hinaus erlauben sie das sogenannte „contract farming“, im Zuge dessen Konzernen direkte Verträge mit Bäuer*innen abschließen können, die dann unmittelbar für sie arbeiten. Das dritte Gesetzt entzieht der Regierung die Kontrolle über bestimmte landwirtschaftliche Produkte, darunter Getreide und Hülsenfrüchte und erlaubt die Regulierung des Handels mit diesen Erzeugnissen nur noch unter außergewöhnlichen Umständen, wie zum Beispiel bei Hungersnöten oder Naturkatastrophen.


Private Unternehmen können Preise bestimmen

Viele Bäuer*innen fürchten, dass die neuen Gesetze ausschließlich Großkonzernen in die Hände spielen. Diese könnten zukünftig viel stärker in den Markt eingreifen und Einfluss auf die Preise nehmen. Ein weiterer Streitpunkt sind die staatlichen Abnahmepreise (MSP). Sie gelten bisher nur für bestimmte Erzeugnisse und sind nicht offiziell durch Gesetze garantiert. Zum Schutz vor Preisdruck und sinkenden Einkommen fordern die Protestierenden nun eine feste Verankerung der Preis-und Abnahmegarantien in der indischen Gesetzgebung und eine Ausweitung auf alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse.

Die Grüne Revolution als Ausgangspunkt bisheriger Regulierungen

Die bisherige Regulierung des Agrarmarktes beruht auf der „Grünen Revolution“, die in den 1960er Jahren durch die indische Regierung ausgerufen wurde. Als Reaktion auf wiederkehrende Ernteausfälle und Hungernöte sollte die indische Landwirtschaft durch neu gezüchtete Getreidesorten, den Einsatz von Pestiziden und Ausbau von Bewässerungssystemen effizienter und widerstandfähiger gestaltet werden. Um die Akzeptanz unter den Bäuer*innen zu stärken und sie von den neuen Getreidesorten zu überzeugen, führte die Regierung einen Mindestpreis ein, der den Bäuer*innen zusichert, dass der Staat die Erträge zu einem festgelegten Preis aufkauft. Dieses System hat bis heute Bestand. Der Ursprung der „Grünen Revolution“ liegt dabei vor allem in den Bundesstaaten Punjab und Haryana, sowie Teilen von Uttar Pradesh. Sie gelten als die Kornkammern Indiens und sind stark vom Anbau der modernen Getreidesorten und dem Einsatz von Pestiziden geprägt, während in anderen Regionen noch traditionelle Nutzpflanzen und Anbaumethoden überwiegen.

 

Nicht alle Bäuer*innen sind gleich von den neuen Gesetzesänderungen betroffen

Nachdem die Agrarreform in den 1970er Jahren zunächst zu einer deutlichen Steigerung der Produktivität geführt hat und die Bundesstaaten im Kerngebiet der „Grünen Revolution“ davon profitierten, machen sich heute besonders die Schattenseiten bemerkbar. Durch den Einsatz von Pestiziden verliert das Ackerland an Fruchtbarkeit und die Nutzung von Monokulturen führt zu Austrocknung und Degradierung des Bodens. Hinzu kommt, dass die Abhängigkeit gegenüber Konzernen, die das Saatgut und die Pestizide herstellen, immer weiter wächst. Hunderttausende Bäuer*innen haben aus Verzweiflung bereits Selbstmord begangen. Die Mindestpreise sind für viele der Bäuer*innen deshalb die letzte Garantie, nicht komplett in Armut und Perspektivlosigkeit zu verfallen. Es wundert daher nicht, dass die Bäuer*Innen aus Punjab und Haryana, welche am stärksten unter dieser Entwicklung leiden, auch eine zentrale Rolle bei den Protesten spielen. Am Anfang der Proteste waren sie es, die in das nahe gelegene Delhi gezogen sind, um gegen das Inkrafttreten der neuen Agrargesetze zu demonstrieren und bis heute prägen sie das Bild der Bewegung.

Auswirkungen der neuen „Farm Bills“ auf Kleinbäuer*innen aus anderen Regionen

Unsere Recherchen und die Einschätzung unsere Partner aus den Projektregionen zeigen, dass die Landwirtschaftsgesetze, insbesondere die staatlichen Mindestpreise, für kleine und marginalisierte Bäuer*innen eine weitaus geringere Rolle spielen. Das liegt zum einen daran, dass viele Bäuer*innen gar nicht in der Lage sind, Mengen zu produzieren, die auf den staatlichen Märkten verkauft werden können. Immerhin 68 Prozent der indischen Bäuer*innen besitzen weniger als einen Hektar Land und die Erträge reichen meistens nur aus, um die eigene Familie zu ernähren und einen kleinen Zuverdienest zu erwirtschaften. Dafür werden die Produkte zumeist auf offener Straßen verkauft und nicht über die staatlichen Märkte vertrieben. Staatliche Abnahmepreise oder Marktmechanismen spielen daher für diese Menschen nur eine untergeordnete Rolle.
 

Kleinbäuer*innen profitieren eher von lokalen Programmen


Ein weiterer Grund ist, dass die Mindestpreise (MSP) nur für ausgewählte Nutzpflanzen gelten, wie zum Beispiel Reis, Hirse und Weizen. Bäuer*innen, die Gemüse oder Obst anbauen, haben auch vor der Reform der Landwirtschaftsgesetze nicht von den MSPs oder Abnahmegarantien profitiert. Hinzu kommt, dass die MSPs oft Produktionskosten ansetzen, die viel geringer sind als der tatsächliche Arbeitsaufwand und die Unkosten der Bäuer*innen. Von den MSP und Abnahmegarantien profitieren daher laut unserem Partner CENTEREDEA oft nur Reis- und Weizenbäuer*innen aus den nördlichen Bundesstaaten.

Des Weiteren gibt es je nach Bundesland unterschiedliche Subventionierungs- und Unterstützungsprogramme für marginalisierte Bäuer*innen. Vom CWS Ressource Center für  Andhra Pradesh und Telangana haben wir erfahren, dass die Bäuer*innen dort durch lokale Subventionen bessere Preise als die bundesweiten MSPs bekommen, wodurch sich vorerst die Bedeutung der bundesweiten Gesetzgebung und Preisregelungen reduziert.

 

Bäuer*innen aus dem Süden weniger an den Demos beteiligt

Wie zu erwarten beteiligen sich viele Kleinbäuer*innen aus den südlichen Bundestaaten Indiens aus den oben genannten Gründen weniger aktiv an den Protesten, die sich nach wie vor auf den Norden und vor allem Delhi konzentrieren  Das liegt allerdings nicht nur daran, dass sie weniger betroffen sind, sondern resultiert auch aus fehlenden Informationen und mangelnder Aufklärung. Zudem können es sich viele der marginalisierten Bäuer*innen gar nicht leisten, ihre Felder zu verlassen, um in den Städten zu protestieren. Sie sind kaum in der Lage sich zu organisieren, was im Norden Indiens meistens durch die Gewerkschaften übernommen wird. Zudem ist der Weg nach Delhi für viele marginalisierte Bäuer*innen lang und beschwerlich. Nichtsdestotrotz berichten unsere Partner davon, dass sich auch in den Projektregionen in einigen Fällen Kleinbäuer*innen zusammenschließen, um sich den Protesten direkt anzuschließen oder Repräsentanten*innen zu bestimmen, die sie bei Kundgebungen in der Region  vertreten.

 

Die Agrarkrise als kollektives Problem

 

Der Fakt, dass die indischen Bäuer*innen unterschiedlich stark von den neuen Gesetzen betroffen sind, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die indische Landwirtschaft in einer Krise befindet. Der Klimawandel, die Folgen von Pestizidanwendung und Monokulturen, Verschuldung, sowie gestiegene Kosten machen es den Bäuer*innen immer schwerer, von ihrer Arbeit leben zu können. Die Protestbewegung kann deswegen auch als kollektives Zeichen der Unzufriedenheit gedeutet werden. Ob eine Strategie, die darauf abzielt, den Markt zu deregulieren und mehr Konzerneinfluss zuzulassen, der richtige Maßnahme dagegen ist, bleibt zu bezweifeln.

…und Zweifel an der Deregulierungsstrategie als Lösung


Unsere Partnerorganisation CENTEREDA hat dazu eine klare Meinung: „Die Bäuer*innen einem dereguliertem Wettbewerb mit Unternehmen auszusetzen, kann nicht die richtige Antwort auf die existierenden Probleme sein“. Es wäre wie „die Schafe dem Wolf zum Fraße vorzuwerfen“, so ein weiterer O-Ton.

Gabor Lauchstädt, Februar 2021