Corona verstärkt Benachteiligungen

Die Lage in Indien, Simbabwe und Brasilien
 

Durch die Coronapandemie wurde die Welt plötzlich auf das Schicksal der indischen „Wanderarbeiter*innen“ aufmerksam. Hunderttausende von ihnen waren durch den Lockdown an ihren Arbeitsorten Delhi, Bangalore oder Chennai gestrandet; ohne Einkommen, Versorgung und Transportmöglichkeiten blieben ihnen nur verzweifelte Fußmärsche in ihre Heimatdörfer.

Doch „Wanderarbeit“, d.h. durch Not erzwungene Arbeitsmigration, gehört in Indien seit Jahren zur Normalität. Meist sind es junge bis mittelalte Männer, die fernab ihrer Heimatdörfer unter skandalösen Bedingungen auf Baustellen, beim Rohstoffabbau, in Ziegelfabriken oder im Gastgewerbe schuften. Da die Menschen keine Staatgrenzen überschreiten, bleiben sie im „Normalzustand“ weitgehend unsichtbar. Es handelt sich, je nach Schätzung, um bis zu 400 Millionen Personen.

Wie überall in der Welt hat das Covid19-Virus auch in Indien dazu beigetragen, vor sich hin schwelende Probleme der Gesellschaft sichtbar zu machen – darunter das der rechtlosen und ausgebeuteten Wanderarbeiter*innen. Meist kommen diese aus den benachteiligten sozialen Gruppen der kastenlosen Dalits oder indigenen Adivasi. Es sind wiederum genau diese Gemeinschaften, die die geringste Bildung haben, kaum Zugang zu Gesundheitsversorgung, nur wenig und nur schlechtes Land und kaum ein menschenwürdiges Einkommen. In ihren Dörfern sorgt der Staat selten für eine angemessene Infrastruktur.

 

Indische Dalits und Adivasi sind überdimensional betroffen
 

Corona hat die Lage der Wanderarbeiter*innen nicht nur sichtbar gemacht, sondern real verschlimmert. In der Zeit des Lockdowns hatten Tagelöhner, deren Löhne schon vor Corona kaum zum Leben reichten, plötzlich null Einkommen. Das gleiche gilt für informelle Straßenhändler. Wer sich dann trotz der Einschränkungen mit dem Virus infizierte, konnte nicht mit einer ausreichenden medizinischen Versorgung und erst recht nicht mit einem Platz in einer Intensivstation rechnen. Corona verstärkte auch hier die Spaltung der indischen Gesellschaft in jene, die Rechte haben und jene, die die Gesellschaft draußen hält.

Millionen von Menschen sind seither in einer existenziellen Krise. 120 Millionen Arbeitsplätze gingen allein in den ersten beiden Wochen der Abriegelung verloren und viele fragen sich, welche Verdienstmöglichkeiten es künftig für jene gibt, die in der Landwirtschaft kein Auskommen mehr finden.

Unterdessen steigen die Infektionszahlen weiter bedrohlich an. In ländlichen Regionen wurden nun viele Schulen zu Covid19-Versorgungszentren umfunktioniert. Die Schulen versuchen zwar, den Unterricht online fortzuführen. Schüler*innen aus armen Familien allerdings können mangels Smartphones oder Tablets nicht teilnehmen. Auch bei den meisten staatlichen Schulen fehlt es an der notwendigen Ausstattung.

 

Indien hat die meisten Menschen zumindest vor dem Hungertod bewahrt

 

Dagegen scheint die Versorgung der Menschen mit Getreide über das staatliche Nahrungsverteilungssystem mal mehr, mal weniger und regional sehr unterschiedlich funktioniert zu haben. Obwohl die Regierung die Versorgung auch von Menschen ohne die offiziellen Berechtigungskarten angeordnet hatte, haben das lokale Behörden nicht immer getan. Hier mussten dann NROs wie die ASW-Partner aktiv werden. Sie haben vielfach als Brücke zwischen den lokalen Regierungsstellen und den Bedürftigen fungiert.

So konnten die Menschen im Lockdown wenigstens vor dem Hungertod bewahrt werden. „Aber Reis allein genügt nicht“, sagt die Koordinatorin unserer Partnerorganisation RDS in Telangana. „Wenn die Menschen aufgrund der verordneten Immobilität keine Tagesjobs bzw. keine Verkaufserlöse mehr haben, ist es für sie unmöglich, ihren Nährstoffbedarf zu decken.“ 

Was die indischen ASW-Partner zurzeit umtreibt, sind die steigenden Infektionszahlen und der Mangel an Test- und Versorgungskapazitäten auf dem Land. Sie haben uns auch bewegende Beispiele von an Covid-19 erkrankten Menschen oder von Verdachtsfällen aus ihrem Umfeld geschickt. Einer durch einen Verkehrsunfall gezeichneten jungen Frau wurde in drei staatlichen Gesundheitsstationen der Zutritt verweigert und im Distriktkrankenhaus wurde sie extrem entwürdigend behandelt.

Eine 35-jährige erkrankte Hausangestellte im Wirkungsbereich von RDS erreichte zwar das Gandhi Medical College in Hyderabad und erhielt offensichtlich die Behandlung, die sie brauchte. Dennoch waren alle Versuche, ihr Leben zu retten, vergeblich.

 

Menschenrechtsverletzungen im Lockdown

 

Corona liefert repressiven oder wirtschaftsfreundlichen Regierungen auch Vorwände, um Freiheits- und andere Rechte einzuschränken. In den von der hindunationalistischen BJP regierten Bundesstaaten Indiens stehen aktuell die Arbeitsrechte zur Disposition. Unternehmen haben grünes Licht erhalten, ihren Arbeiter*innen z.B. eine 72-Stundenwoche abzuverlangen.

In Simbabwe nutzt derweil das Regime die eingeschränkten Reaktionsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft, um massiv gegen seine Gegner vorzugehen. Im Schatten der Corona-Beschränkungen kam es seit März zu über 100.000 Verhaftungen.

Betroffen waren vor allem Aktivist*innen und Journalist*innen, die sich in einer Kampagne gegen die grassierende Korruption hervorgetan hatten.  So wurde z.B. am 22. Juli der Leiter von Transformation Zimbabwe, Jacob Ngarivhume, verhaftet.

Oft dient eine unterstellte Nicht-Einhaltung von Abstandsregeln als Vorwand für Anklagen. Dies passierte Ende Mai zwei Journalisten, die in  einem Krankenhaus verhaftet worden waren, als sie Opfer mutmaßlicher Entführungen interviewen wollten. Aufgrund des großen internationalen zivilgesellschaftlichen Drucks hat die Afrikanische Union mittlerweile ebenfalls die Regierung Simbabwes gerügt und zu Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Menschenrechte ermahnt.

Im Schatten des wochenlangen und mittlerweile auf unbestimmte Zeit verlängerten Lockdowns versucht die Regierung zudem, die Verfassung zu ändern. Damit soll etwa die Besetzung von hohen Richterämtern zur alleinigen Sache des Präsidenten werden.

 

Gute Gelegenheit, um Brasiliens Indigene noch weiter zu schwächen

 

Ähnlich wie Indien ist unser Projektland Brasilien schon seit Beginn der Pandemie in den Schlagzeilen. Nirgendwo zeigte der politische Führer eines Landes eine solche Ignoranz gegenüber der Covid19-Erkrankung. Er rief sogar offen zur Missachtung von Einschränkungen und Abstandsregeln auf, die Bürgermeister*innen und Gouverneure zum Schutz der Bevölkerung verhängt hatten. In der Folge wurde Brasilien zu einem der drei Länder mit den am schnellsten wachsenden Infektionsraten und meisten Toten. Fast zwangsläufig fordert das Virus nicht unter Bolsonaros Gefolgschaft (er selbst überlebte eine Covid19-Erkrankung), sondern unter den armen Bewohner*innen der Favelas die meisten Opfer.

Mittlerweile kann auch Bolsonaro die Pandemie nicht mehr verleugnen. Nachdem der Gouverneur von Sao Paulo 1)  in seiner Stadt ein Impfstoff-Testprojekt gestartet hatte, zog Bolsonaro nach und handelte einen Vertrag mit einem britischen Firmenverbund aus, der nun an einer großen Zahl brasilianischer Freiwilliger eine andere Impfstoffvariante testet.

Unterdessen lässt der Präsident keine Gelegenheit aus, seine Menschenverachtung unter Beweis zu stellen. Anfang August legte er zum Beispiel sein Veto gegen ein Gesetz zur Entschädigung von Gesundheitspersonal ein, das durch die Arbeit während der Corona-Pandemie arbeitsunfähig geworden ist.

Am 7. Juli hatte er Teile eines vom Senat bereits genehmigten Gesetzes zugunsten der indigenen Bevölkerung blockiert. Dieses sollte die Regierung verpflichten, u.a. Hygiene- und Reinigungsmittel, Saatgut und landwirtschaftliche Werkzeuge sowie Lebensmittel und Trinkwasser an indigene Dörfer bereitzustellen.

Er legte auch ein Veto ein gegen die Einrichtung von Notfallfonds für die Gesundheit der indigenen Bevölkerung und die Bereitstellung von Krankenhausbetten, Beatmungsgeräten und Sauerstoffgeräten.

 

Unterlassene Hilfeleistung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit

 

Zwar hat Bolsonaro schon etliche Schritte zur Schwächung indigener Gemeinschaften unternommen. Gleich nach seinem Amtsantritt vor 1,5 Jahren hatte er die Indigenen-Behörde FUNAI entmachtet und Zuständigkeiten für indigene Territorien dem Landwirtschaftsministerium übertragen. Anfang 2020 brachte er ein Gesetz auf den Weg, das Unternehmen die wirtschaftliche Ausbeutung der indigenen Gebiete Brasiliens ermöglicht.

Doch seine Corona-Politik gegenüber den Minderheiten, insbesondere sein Veto gegen ihre medizinische Versorgung, hat eine neue Qualität. Bolsonaro nimmt damit den Tod der Menschen und die Auslöschung ihrer Gemeinschaften unmittelbar in Kauf. Daher will nun ein Bündnis aus Gewerkschaften und Jurist*innen (u.a. der Verband brasilianischer Juristen für die Demokratie ABJD)  Bolsonaro vor dem UN-Menschenrechtsgerichtshof der Vereinten Nationen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit 2) anklagen.

Die indigenen Gemeinschaften organisieren längst ihren eigenen Coronaschutz. Unterstützt durch den ASW-Partner FAOR hat z.B. die Munduruku-Gemeinde Praia do Indio/Itaituba Munduruku Straßensperren an den Zufahrten in ihre Dörfer errichtet. So werden Fahrer von Lastwagen und Autos gehindert, das Virus in die Gemeinschaften einzuschleppen.

Doch die Immobilität der Menschen infolge der Ansteckungsgefahr hat Folgen auch für die Umwelt: Eindringlinge in die Waldgebiete der indigenen Gemeinschaften werden von diesen nun nicht mehr so leicht entdeckt. Und Brasiliens Zivilgesellschaft sowie seine Gerichte sind insgesamt weniger reaktionsfähig. Tatsächlich hat seit Ausbruch der Corona-Pandemie die Entwaldungsrate in Amazonien neue Rekorde erreicht.
 

Isabel Armbrust

Anmerkungen/Quellen:
1) nach Recherchen der ZEIT vom 23. Juli 2020
2)Von einer Anklage wegen Genozid hat das Bündnis abgesehen, weil dazu nachgewiesen werden müsste, dass eine indigene Gruppen mit wenigen Mitgliedern oder auch Unkontaktierte durch eine Infektion mit dem Coronavirus vom Aussterben bedroht wäre (Uta Grunert auf KoBra 31.07.2020)