Interview Indien: Errungenschaften der Frauen unter Druck

Die Feministin Dr.V. Rukmini Rao zum Stand der Frauenrechte

 

In Indien gibt es seit Jahrzehnten eine starke Frauenbewegung sowie lokale Frauennetzwerke und Frauen-NGOs an der Basis. Im Laufe der Jahre ist es diesen Bewegungen gelungen, einige gute Gesetze durchzusetzen, um Frauen vor Diskriminierung und Gewalt zu schützen. Aber ist es ihnen auch gelungen, einen grundlegenden Bewusstseinswandel in der Gesellschaft einzuleiten? Im Folgenden erklärt die Frauenrechtlerin Dr. V. Rukmini Rao an zahlreichen Beispielen, was die organisierten Frauen Indiens durch ihren jahrzehntelangen Kampf erreicht haben. Auch gegenläufige Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit sind Thema, bedingt durch die Corona-Pandemie, die wirtschaftliche Krise und einschränkende politische Rahmenbedingungen. Rukmini Rao war lange im Vorstand der ASW-Partnerorganisation Centre for World Solidarity.

 

I BILDUNG, PARTIZIPATION UND EMPOWERMENT VON FRAUEN AUF DEM LAND
 

ASW: Beginnen wir mit der ländlichen Gesellschaft, auf die die ASW zusammen mit ihren indischen Partnerorganisationen die Arbeit fokussiert. Welche Ergebnisse hat die Arbeit von Frauen-NGOs in den ländlichen Gebieten gebracht?

Rukmini Rao: Bezogen auf die vergangenen fünfzig Jahre hat die Arbeit der Frauenbewegung inklusive der NGOs auch die Regierungspolitik verändert. Wir können eine Verschiebung weg von einem auf Wohltätigkeit basierenden Ansatz hin zu einem auf Rechten basierenden Ansatz feststellen.

Früher wurden Frauen als Opfer betrachtet, die der Hilfe bedürfen. Folglich lag der Schwerpunkt z.B. auf der Einrichtung von Heimen für verwitwete Frauen. Im Laufe der Jahre verlagerte sich dieser auf die Bildung von Frauen und in den frühen 2000er Jahren wurde die Arbeit auf die Rechte von Frauen ausgeweitet.

Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen brachten uns Gesetze wie das Recht auf Arbeit für Männer und Frauen, und im Falle von Frauen die Anerkennung von häuslicher Gewalt als Verbrechen. Das Gesetz zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt aus dem Jahr 2005 ermöglichte Frauen den Zugang zu bürgerlichen Rechten wie dem Recht auf Zahlungen von Unterhalt und Kindergeld durch den Ehepartner.

Frauen-NGOs haben Frauen früher auf freiwilliger Basis unterstützt, aber seit 2017 hat die Regierung in jedem Bezirk und jeder Stadt Krisenzentren eingerichtet, um Frauen, die Gewalt erlebt oder überlebt haben, zu unterstützen und ihnen zu helfen, ihre Rechte einzufordern.
Auch Kurzzeitunterkünfte werden für einen Zeitraum von fünf Tagen bereitgestellt.  Die Einschulung von Mädchen in Grundschulen ist gestiegen, doch die Zahl der Schul-Abbrecherinnen in der Sekundarstufe (nach Klasse 8) ist nach wie vor hoch, insbesondere in Nordindien.

 

Inwieweit haben staatliche Programme, die von den Frauen-NROs eingefordert und begleitet wurden, hier geholfen, z.B. Frauen-Selbsthilfegruppen (SHG) oder kommunale Wassereinzugsgebietsprogramme?

Die Organisation in Selbsthilfegruppen hat für Frauen, die früher in den Fängen von Geldverleihern waren, eine große Verbesserung gebracht. Jetzt können die Mitglieder einer Selbsthilfe-Gruppe Kredite zu niedrigen Zinsen aufnehmen; damit ist auch ihr Selbstwertgefühl gestiegen.
Studien der Weltbank in Andhra Pradesh haben gezeigt, dass ein Teil der Frauen Geldrücklagen aufbauen konnten. Gemeinsames Handeln gegen Gewalt durch Männer, das Anprangern von Lehrern, die nicht pünktlich zur Schule kommen – all das gibt den Frauen das Gefühl, etwas bewirken zu können.

Während der Covid-Pandemie übernahmen Frauen-SHGs in mehreren Bundesstaaten eine führende Rolle bei der Bereitstellung von Nothilfe für bedürftige Familien.

NRO leisteten Pionierarbeit bei Programmen zur Entwicklung und eigenverantwortlichen Nutzung von Wassereinzugsgebieten, doch wurden die Ideen von der Regierung sowohl in Andhra Pradesh als auch im ganzen Land aufgegriffen. Die Konzentration auf die Erhaltung und Bewirtschaftung von Wasser- und Landressourcen sowie die Organisation lokaler Gemeinschaften hat zu einer Regeneration der Umwelt und einer Steigerung der Einkommen von Klein- und Kleinstbäuer*innen geführt.

 

Hat die Organisation von Frauen in SHGs und die Erzielung eines eigenen Einkommens sie umfassend gestärkt, also z.B. auch gegen die Gewalt von Männern?


Sobald die Frauen Geld verdienen, zeigen die Männer in der Familie mehr Respekt vor ihnen. Mehrere Landesregierungen haben neben der Vermittlung von Bankkrediten auch Programme zur Entwicklung des Lebensunterhalts aufgelegt. Durch diese finden Frauen leichter Zugang zu Regierungsstellen, zu Märkten für ihre Produkte, beginnen auch, gemeinsam zu planen und können leichter Führungsrollen in der Gemeinde übernehmen. Die meisten Frauen berichten in den Evaluierungsstudien, dass in der Familie nun gemeinsame Entscheidungen getroffen wurden.

Es ist jedoch festzustellen, dass die Gewalt gegen Frauen in der indischen Gesellschaft zugenommen hat und die Situation komplex ist. Die Ärmsten der Armen, die Angehörigen der Dalit- und der Adivasi-Gemeinschaften haben noch einen langen Weg vor sich, um in der Praxis gleiche Bürgerrechte zu erlangen. Frauen aus diesen Gruppen sind weiterhin privater und öffentlicher Gewalt ausgesetzt. Die SHGs können nicht alle Probleme der Frauen lösen, aber sie sind ein wichtiger Faktor, um Veränderungen in Gang zu bringen.

 

Inwieweit hat der regelmäßige Schulbesuch von Mädchen zugenommen, und inwieweit hat sich der Bildungsstatus von Frauen auf dem Land verbessert?

Die Schulbesuchsquote von Mädchen hat sich in den letzten 15 Jahren landesweit verbessert. NRO haben Gemeinschaften beim Zugang zu Bildung unterstützt.  Indien hat die Geschlechterparität in der Grundschulbildung gemäß den SDG-Zielen erreicht. Die Alphabetisierungsrate von Frauen ist nach wie vor niedrig und lag 2016 bei 59,3. Prozent. Die südindischen Bundesstaaten schneiden in diesem Bereich wesentlich besser ab.

40,3 % der Mädchen studieren in Indien Ingenieurwesen und technische Fächer, und auf 100 Männer kommen 90,9 Frauen, die Medizin studieren.

 

Kannst du beziffern, wie stark die Partizipation von Frauen in Dorfgremien zugenommen hat?

Die Beteiligung von Frauen in Dorfausschüssen hat deutlich zugenommen, seit das Panchayati Raj-Gesetz (Gemeindeselbstverwaltung, ähnlich unserer Gemeindeverwaltung) geändert wurde, das nun eine Anzahl von reservierten Positionen für Frauen in der lokalen Verwaltung vorsieht. Die Gesetzgebung der Bundesstaaten sieht vor, dass Frauen mindestens 30 % der Sitze in den Gremien der lokalen Verwaltung vorbehalten sind. In einigen Bundesstaaten liegt der Frauenanteil bei 50 %. Derzeit sind 1,3 Millionen Frauen in lokale Gremien auf drei Ebenen bis hin zur Distriktebene gewählt.

Aber für eine Frauenquote im Nationalparlament wird noch gekämpft. Hier ist ein Gesetzentwurf seit mehr als 10 Jahren anhängig – die Frauenbewegung fordert 30 Prozent Sitze für Frauen.
Wir können eindeutig sagen, dass zwar viele fortschrittliche Gesetze im Lande erlassen wurden, sich die patriarchalische Denkweise der männlichen Machthaber jedoch nicht vollständig geändert hat.

 

Wie sieht es mit dem Erbrecht der Frauen und dem Landbesitz aus? Ist die Zahl der Frauen, die als Landbesitzerinnen registriert sind, gestiegen?

Die Zahl der Frauen, die Land besitzen, liegt bei etwa 13 %, aber sie besitzen nur eine kleine Anbaufläche. Tatsache ist, dass 40 % der Familien landesweit unterhalb der Armutsgrenze leben, d.h. sie haben nicht einmal zwei anständige Mahlzeiten pro Tag. Frauen und Kinder leiden nach wie vor an Unterernährung, Wachstumsstörungen und Anämie aufgrund von Eisenmangel in der Nahrung und unzureichender Kaufkraft. 57 % der Frauen sind in der Landwirtschaft tätig, gegenüber 43 % der Männer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Männer Zugang zu einer Vielzahl von Arbeitsplätzen haben, während Frauen in stereotypen Rollen feststecken.

 

Was bewirkt eigentlich die durch den Klimawandel verstärkte Arbeitsmigration von Männern? Verbessert oder verschlechtert sich dadurch der Status der Frauen?


In der Regel hat die Abwanderung der Männer in die Städte dazu geführt, dass sie Geld nach Hause schicken oder überweisen können. Häufig nehmen die Arbeiter, insbesondere in der Ziegelherstellung und im Baugewerbe, Kredite auf und arbeiten, um die Schulden zurückzuzahlen. Die Frauen, die allein zurückbleiben, müssen sich um die Familie und die Landwirtschaft kümmern und werden mit zusätzlicher Arbeit belastet. Aufgrund von Covid waren viele Männer nun gezwungen, in ihre Dörfer zurückzukehren. Dadurch ist ein zunehmender Wettbewerb mit den Frauen um die knappen Lohnarbeitsplätze entstanden. Die Familien wandern auch saisonal für mehrere Monate im Jahr und kehren mit Bargeld zurück, um die mageren Monate zu überstehen.

 

In Andhra Pradesh liegt die Geburtenrate pro Frau nur noch bei 1,6. Da nur 35 Prozent aller Menschen in diesem Bundesstaat in Städten leben, muss sich die Geburtenrate auch in ländlichen Gebieten verändert haben. Was ist der Grund?

In den südlichen Bundesstaaten ist die Geburtenrate gesunken, auch in Andhra Pradesh und dem neu gegründeten Bundesstaat Telangana. Dies ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen, z. B. auf eine bessere Bildung, ein größeres Gesundheitsbewusstsein, eine bessere Gesundheitsversorgung und die allgemeine Entwicklung. Im ländlichen Telangana liegt die Fruchtbarkeitsrate bei 1,7. Die Lebenshaltungskosten sind enorm gestiegen, was in Verbindung mit der Bevorzugung von Söhnen dazu führt, dass sich die Familien für ein einziges Kind entscheiden, wenn ein Sohn geboren wird.

 

 


II SITUATION DER FRAUEN IN DEN STÄDTEN

 

Was hat sich für städtische Frauen insgesamt verbessert?

Die Antwort auf diese Frage hängt von der Klasse und der Kaste der Frauen ab. In den Städten haben Mädchen einen leichteren Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Junge Frauen aus armen Haushalten können in der Pflege arbeiten und in Geschäften, Restaurants usw. niedrig bezahlte Tätigkeiten ausüben.  Gebildete Frauen aus der Mittelschicht finden Jobs in einer Vielzahl von Sektoren, z. B. in großen privaten und öffentlichen Krankenhäusern, in IT-Unternehmen oder als Lehrkräfte an Universitäten. Der Oberste Gerichtshof hat in diesem Jahr die Beschäftigung in der Armee für weibliche Offiziere geöffnet.
 

Andererseits ist Indien im Global Gender Gap Report 2021 des Weltwirtschaftsforums um 28 Plätze von 112 auf 140 abgerutscht. Das Pandemiejahr hat dazu geführt, dass sich Indiens Gender Gap um 4,3 Prozentpunkte vergrößert hat. Das wichtigste und anhaltende Merkmal der zunehmenden Geschlechterkluft ist die Verschlechterung der wirtschaftlichen Möglichkeiten für indische Frauen, die zu einer rückläufigen Beteiligung an der formellen Erwerbsbevölkerung führt.
Nach Angaben der Weltbank ist die Erwerbsquote von Frauen in Indien von 30,27 Prozent im Jahr 1990 auf 20,8 Prozent im Jahr 2019 gesunken.

 

Wie groß ist das geschlechtsspezifische Lohngefälle, d. h. der Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen für dieselbe Arbeit in Indien?

Das Lohngefälle ist in Indien beträchtlich, laut dem Monster Salary Index, der im März 2019 veröffentlicht wurde, betrug es 19 Prozent. Männer verdienten im Jahr 2018  46,19 Rupien mehr pro Stunde.

In ländlichen Gebieten erhielten derzeit 68 % der weiblichen Gelegenheitsarbeiter weniger als den Mindestlohn von 122 Rupien und 47 % der Männer weniger als den Mindestlohn. Männer haben jedoch mehr Möglichkeiten, zu migrieren, um bessere Löhne zu verdienen. Es ist jedoch anzumerken, dass Frauen, die bei der Regierung arbeiten, bei den Löhnen nicht diskriminiert werden.
 

Selbst Familien der Mittelschicht scheinen sich immer noch eher Söhne als Töchter zu wünschen, und viele weibliche Föten werden abgetrieben. Ist hier eine Verbesserung in Sicht?

Die Bevorzugung von Söhnen und die selektive Abtreibungen von Mädchen ist in Indien nach wie vor verbreitet – in armen wie in wohlhabenden Familien. Oft werden auch Frauen, die ein Mädchen zur Welt bringen, von Familienmitgliedern, sogar von Ehemännern, seelisch und körperlich gequält. Einer der Gründe für häusliche Gewalt ist die Geburt eines Mädchens.

 

Kannst du ungefähr sagen, wie hoch der Prozentsatz der städtischen Frauen heute ist, die ihren Ehepartner frei wählen können und die sich auch gegen Kinder und für eine Karriere entscheiden können?

Ich würde schätzen, dass weniger als 1 % der Frauen im städtischen oder ländlichen Indien ihren Ehepartner frei wählen können. Klassen- und Kastenschranken bestehen fort. Vor allem die Kastenschranken haben zu Morden an Paaren oder Jungen und Mädchen geführt, die sich gegen den Willen der Familien- und Kastenpatriarchen für eine Heirat entschieden haben. Hinzu kommt, dass die neuen Anti-Konversionsgesetze, die sich in Bundesstaaten wie Uttar Pradesh gegen Muslime richten, dazu geführt haben, dass jede religionsübergreifende Heirat eine Bedrohung für das Leben des Paares darstellt und zur sofortigen Verhaftung führen kann.

 

Gibt es auch einen Bewusstseinswandel in der Haltung gegenüber alleinstehenden Frauen?

Die Einstellung gegenüber alleinstehenden Frauen hat sich geändert. Alleinstehende Frauen organisieren sich und fordern Zugang zu Beschäftigung, Land, Bildungsprogrammen und besseren Löhnen. Wir unterstützen die Frauen dabei. So können sie sich auch gegenseitig bei der Bewältigung von Schwierigkeiten helfen. Frauen, die verwitwet sind, galten in den Dörfern als schlechtes Omen. Das ändert sich langsam.

 

III GEWALT GEGEN FRAUEN
 

Seit 16 Jahren gibt es in Indien ein Gesetz gegen häusliche Gewalt, das von organisierten Frauen erkämpft wurde. Was hat sich seitdem getan?

Leider hat die ungleiche Entwicklung im Lande dazu beigetragen, dass Gewalt wieder zunimmt. Die Erwerbsquote bei Frauen ist, wie erwähnt, seit den 1990er Jahren wieder rückläufig.  Auf dem Lande trägt die Mechanisierung der Landwirtschaft dazu bei. Denn während Frauen früher während der Erntezeit arbeiteten, werden heute mechanische Erntemaschinen eingesetzt. Die extrem niedrigen Löhne, die den Frauen angeboten werden, erlauben es ihnen nicht, aus dem Haus zu gehen, da es keine Kinderbetreuung gibt. Mangelnde wirtschaftliche Unabhängigkeit bedeutet, dass Frauen das gewalttätige Zuhause nicht verlassen können.
Außerdem ist Gewalt gegen Frauen durch Medien, Filme und pornografisches Material, das jungen Menschen zur Verfügung steht, im öffentlichen Leben „normalisiert“ worden.
 

Im Jahr 2013 gab es in Indien, zum Teil als Folge der größeren Aufmerksamkeit für Vergewaltigungsfälle, einige rechtliche Neuerungen. Z.B. wurde der Strafrahmen für Vergewaltigung erweitert. Hat dies etwas bewirkt?

Es ist allgemein bekannt, dass härtere Strafen, wie auch die Todesstrafe, nicht abschreckend wirken. Was wir brauchen, ist ein sofortiges Eingreifen der Polizei und eine zügige Rechtsprechung. Die politischen Führer müssen auch das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung unterstützen. Die Verbrechen gegen Frauen nehmen weiter zu. Vergewaltiger vergewaltigen nicht mehr nur, sondern töten ihre Opfer.

 

Wie steht es um andere Programme der aktuellen Regierung. Hat z.B. das „save a girl and educate a girl“-Programm, das die selektive Abtreibung weiblicher Föten und die Vernachlässigung von Töchtern in der Gesundheitsversorgung und Bildung bekämpfen soll, etwas bewirkt?

Das Programm ist wichtig, um die Einstellung zu ändern; wir müssen es aber noch auswerten. Außerdem muss aktiv dafür gesorgt werden, dass marginalisierte Frauen Zugang zu Bildung und Beschäftigung haben. Mit Worten allein werden wir unsere Gesellschaft nicht verändern.

Leider sehen wir heute die Gefahr, dass aggressive patriarchalische Denkweisen die Frauen auch wieder zurückdrängen.

 

IV DIE FRAUENBEWEGUNG UND FEMINISTISCHE KAMPAGNEN

 

Würdest du sagen, dass es auch heute noch eine starke Frauenbewegung in Indien gibt?

Ja, die Frauenbewegung kämpft weiterhin für die Rechte der Frauen in Indien. Die autonome Frauenbewegung, die ihre Wurzeln in den Großstädten hatte, hat sich inzwischen auf die ländlichen Gemeinden im ganzen Land ausgebreitet.
Ich würde sagen, dass sie heute stärker ist als früher, weil Frauen im ganzen Land Gerechtigkeit fordern, sei es durch die Umsetzung von Gesetzen zur Bestrafung von Vergewaltigern und Tätern häuslicher Gewalt oder durch den Protest gegen die ungerechten Gesetze zur Präventivhaft, mit denen Bürger ohne Angabe von Gründen inhaftiert werden können.

 

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Bewegungen?

Die Frauenbewegung schließt sich mit einer Vielzahl von Volksbewegungen zusammen, wie z.B. der derzeitigen landesweiten Bauernbewegung, die die Aufhebung von Gesetzen fordert, die sich negativ auf sie auswirken. Wir sind mit den Bewegungen der Arbeiterklasse verbündet, um die Rechte der nicht organisierten Arbeiter (90 % der Arbeiter in Indien) anzuerkennen und ihnen soziale Sicherheit zu gewährleisten.

Wir unterstützen auch Adivasi/indigene Gemeinschaften, die für die Anerkennung ihres Rechts auf ihr angestammtes Territorium kämpfen um dort Ernährungssouveränität sowie ihre soziokulturellen Rechte zu leben. Die Frauenbewegung setzt sich für die Rede- und Meinungsfreiheit und das Recht auf Selbstbestimmung ein.

Die Frauenbewegung unterstützt auch die an vielen Orten stattfindenden Kämpfe gegen das Kastensystem. Ich möchte betonen, dass die Frauenbewegung in Indien nicht monolithisch ist, sondern auf das Prinzip der Pluralität setzt und auf das Recht der Menschen, sich zu organisieren und selbst für ihre Anliegen einzutreten. Feministische Aktivistinnen im ganzen Land beteiligen sich an Kampagnen für Landrechte, die Rechte der Dalits und der marginalisierten Gemeinschaften.

 

Was sind die neuen Ansätze und Aktionsformen? Sind NGOs noch relevant oder eher andere Arten von Vereinigungen?

Die NRO spielen weiterhin eine wichtige Rolle, indem sie auf die Einhaltung von Gesetzen drängen. Daher kontrolliert die Regierung sie auch immer stärker.

Wir brauchen die NGOs auch weiterhin bei der Durchführung von Entwicklungsmaßnahmen und in der Zusammenarbeit mit der Regierung, um die Entwicklungspraxis zu ändern. Wir brauchen aber noch mehr Gruppen, die bereit sind, sich für die Menschenrechte einzusetzen.

Wenn die Exekutive nicht funktioniert, müssen wir die Probleme über das Rechtssystem angehen. Wir brauchen mehr Anwälte, die sich für die Rechte der Bürger einsetzen und juristisch gegen die Regierung vorgehen, wenn sie unrechtmäßig handelt.


Welche Altersgruppen dominieren?

Immer mehr junge und dynamische junge Menschen schließen sich den verschiedenen Bewegungen an.  Die Mittdreißiger und Vierziger sind technisch versiert und nutzen viele neue Möglichkeiten, mit Menschen in Kontakt zu treten. Der Einsatz von Technologie ist notwendig geworden.
 

Welche Rolle spielen die digitale Vernetzung und die sozialen Netzwerke heute?

Die sozialen Medien sind zu einem wichtigen Instrument geworden, um Regierungen in die Pflicht zu nehmen, Informationen auszutauschen und positive Botschaften zu verbreiten, um rechtsgerichteten Elementen entgegenzuwirken.


Die #MeToo-Kampagne war 2017 auch in Indien angekommen. Wie schätzt du die Bedeutung dieser Bewegung für Indien ein?

Diese Bewegung ist auch für Indien wichtig. Frauen haben sich zu Wort gemeldet und sexuelle Gewalt am Arbeitsplatz öffentlich gemacht. Wir haben bereits ein Gesetz, das durch die Praxis gestärkt werden muss.


Haben junge Frauen in der Stadt überhaupt eine gemeinsame Agenda mit Frauen auf dem Land?

Ja, das haben sie. Frauen, junge und alte, wollen, dass sich das Land in Richtung tatsächlicher Gleichberechtigung bewegt. Gewalt auf der Straße, häusliche Gewalt, fehlende Arbeitsplätze, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – das sind Dinge, die alle Frauen betreffen und bedrohen.

 

Gibt es auch unter jungen Frauen in Indien einen neuen Konservatismus, wie wir ihn in einigen europäischen Ländern beobachten, eine Identifikation mit der Familie, der Mutterschaft, der Religion?

Ja, ein Teil der Frauen, insbesondere aus Elitefamilien, äußert sich konservativer.


Welches sind heute die wichtigsten Frauennetzwerke?

Jede Bewegung hat ihr eigenes Netzwerk. Die Nationale Allianz für Frauen wurde nach der Pekinger Frauenkonferenz gegründet, es gibt mehrere Dalit-Frauennetzwerke im ganzen Land sowie Makaam---Mahila Kisan Adhikar Manch, ein Netzwerk für Bäuerinnen.


Kannst du uns zum Schluss noch kurz die Arbeit deiner Organisation Gramya vorstellen?

Gramya Resource Centre for Women ist eine von Frauen geführte Organisation, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt. Wir setzen uns gegen weibliche Fötizide, den Verkauf von Mädchenbabys und die Geschlechtsselektion von Ungeborenen ein. In den letzten 20 Jahren haben wir uns für die Bildung von Mädchen aus der Adivasi-Gemeinschaft Lambadi im Distrikt Nalgonda, Telangana, eingesetzt. Wir betreiben die Childline-Dienste in unserem Gebiet mit einer Bevölkerung von 300.000 Menschen, um die Rechte von Kindern zu fördern und zu schützen. Außerdem unterhalten wir das One-Stop-Krisenzentrum zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen im Distrikt Nalgonda. Gramya arbeitet mit nationalen Netzwerken zusammen, um die Rechte von Frauen, Bäuer*innen und insgesamt die Menschenrechte im Land zu fördern.


Das Interview führte Isabel Armbrust im Oktober 2021
 

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