Der Klimawandel ist längst in Indiens Gegenwart angekommen

„In diesem Sommer beteten die Bewohner*innen von Chennai um etwas Regen; in Mumbai wurden die Menschen von einer Sintflut überrascht“, schreiben uns Mitarbeiter*innen von JJS, einer Partnerorganisation in Odisha. Der Klimawandel wirke sich zwar längst global aus, und viele Länder seien von Extremwetterereignissen und gestörten Niederschlagsmustern betroffen. Indien aber ist besonders verwundbar, so unsere Partner*innen.

Denn von 1,4 Milliarden Menschen leben fast 70 Prozent auf dem Land – viele von ihnen sind Kleinbäuer*innen und wirtschaften am Existenzminimum. Dürren und Fluten sind für sie, anders als für wohlhabendere Städter, direkt existenzbedrohend.
Außerdem sind die meteorologischen Auswirkungen des Klimawandels auf der Südhalbkugel unserer Erde besonders drastisch.

 

Starkregen schädigt vor allem die Armen

In den Jahren 2018-19 verloren nach Angaben des Umweltministeriums bis zu 2.400 Inder*innen durch extreme Wetterereignisse wie Überschwemmungen und Zyklone ihr Leben. Laut der indischen meteorologischen Abteilung (IMD) nehmen diese Ereignisse sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in ihrer Intensität zu. So war z.B. der indische Bundestaat Odisha Ende August schon das zweite Mal in diesem Jahr von Starkregen und Überflutungen heimgesucht. Über  1,4 Millionen Menschen in 3.256 Dörfern des Bundesstaates waren betroffen. Am härtesten traf es die sehr armen Dorfbewohner*innen, denn viele verloren ihre Lehmhäuser.

Der Koordinator unserer Partnerorganisation AWARD sieht darin ein Sinnbild für Klimaungerechtigkeit.

 

Langfristige Erosion der Lebensgrundlagen

Nicht weniger existenzbedrohend sind die schleichenden Folgen des Klimawandels, die sich nur langsam zeigen. Häufigere Dürren und Wassermangel, aber auch gestörte Niederschlagsmuster gehören dazu – denn sie erlauben keine landwirtschaftliche Planung mehr. Wenn der Monsunzyklus gestört ist, woher soll die Bäuer*in wissen, wann die Aussaat beginnen kann?

All diese schleichenden Veränderungen bedingen, dass die Landwirtschaft nicht mehr existenzsichernd ist und vor allem für junge Menschen keine Perspektive mehr bietet. Oft suchen die Dorfbewohner*innen andernorts Arbeit oder migrieren an fernere Ziele. Doch Migration als „Anpassung“ an den Klimawandel ist oft eine leidvolle Erfahrung.

 

Die Antwort unserer Partner*innen auf den Klimawandel

Die Menschen in unseren indischen Projektregionen sind schon mittendrin in der Auseinandersetzung mit dem Klimawandel. Angeleitet durch die ASW- Partnerorganisationen suchen sie sowohl im Hinblick auf die Anpassung an den Klimawandel als auch als Beitrag zu seiner Abschwächung nach praktischen Lösungen.

Überzeugt sind sie davon, dass auch Einzelne die globale Erwärmung verlangsamen können, indem sie sich – in der Familie oder in der Dorfgemeinschaft - nachhaltiger verhalten, energiesparender kochen, und nur dann das Moped nutzen, wenn die Fußwege zu lang wären.


In der Landwirtschaft konzentrieren sich unsere Partner schon längst auf traditionelle Pflanzensorten, die weitaus resistenter gegen Klimaanomalien sind als die modernen gentechnisch veränderten Nutzpflanzen. Und zur Wiederbelebung ausgelaugter Böden bringen sie Kompost auf die Felder.

Unser Partner LAYA setzt außerdem in seiner Projektarbeit auf kleine Verbesserungen an bestehenden traditionellen Technologien. Dazu gehören u.a. verbesserte, energiesparendere Kochstellen, einfache Wasserfiltrationen und Pumpmechanismen auf Basis erneuerbaren Energiequellen.
Wichtig ist dabei, dass möglichst alle, also Frauen sowie  Menschen marginalisierter Gemeinschaften wie Dalits und Adivasis, sich mit dem Klimawandel auseinandersetzen und an Maßnahmen zu Anpassung partizipieren und mitentscheiden. Denn nur so können klimabewusste Praktiken zum nachhaltigen Erfolg werden und (klima)gerecht sein.

 

Global und national ist Klimagerechtigkeit nötig

In unserer Befragung haben Vertreter*innen von ASW-Partnerorganisationen auch ihre Vorstellungen zu einer globalen sowie zu einer indischen Klimapolitik geäußert. 

Global und national schlagen sie eine Abkehr von fossilen Brennstoffen zugunsten erneuerbarer Energieträger vor, besseren Schutz von Wäldern, Beschränkungen der Ausbeutung von Rohstoffen, Aufforstung sowie eine konsequente Förderung der Biolandwirtschaft.

Einige fordern auch mehr Klimagerechtigkeit: Die Menschen, die am wenigsten zum Klimawandel beitragen, wie sämtliche marginalisierte Gemeinschaften Indiens, sollten Ausgleichszahlungen erhalten. Gesehen wird dabei sehr wohl, dass nicht nur der Norden, sondern auch Indiens städtische Eliten mit ihrem zerstörerischen Lebensstil den Klimawandel beschleunigen.

 

Ein Partner denkt sogar über mögliche Reparationszahlungen seitens der Industrieländer des Nordens nach. Denn diese, so die Argumentation, hätten Treibhausgase nicht nur in der heutigen Zeit, sondern seit der industriellen Revolution in die Luft geblasen. Dafür sollten sie heute bezahlen, „um eine gerechte Entwicklung für alle zu gewährleisten.“

Ein Mitarbeiter einer Organisation, die in Odisha mit Adivasigruppen arbeitet, gibt dem Reparationsgedanken eine andere Wendung: „Im Mittelpunkt muss nicht nur die finanzielle Entschädigung stehen, sondern auch die wiederherstellende Gerechtigkeit, verstanden als die Wiederherstellung der Integrität unserer Mutter Erde und all ihrer Wesen.“


Ausgleich für aktuelles und vergangenes Unrecht

Ein anderer ASW-Partner argumentiert stärker aus einer Menschenrechtsperspektive und ist besonders auf die Rechte der indigenen Adivasi fokussiert. Ihre Stärkung wäre auch ein Akt von Gerechtigkeit. Denn Adivasi leben mehrheitlich in Waldgebieten, die sie nachhaltig nutzen und schützen. Mehr Rechte für sie würde bedeuten, dass sich Wälder wieder regenerieren.

Ähnliche Forderungen in Richtung der Stärkung indigener Gemeinschaften stellen übrigens die brasilianischen ASW-Partner. Eine Umsetzung solcher Forderungen wäre in  Brasilien und Indien ein schönes Exempel von Klimagerechtigkeit: Jene Gruppen, die in ihren Ländern am stärksten diskriminiert sind, aber gleichzeitig am meisten zum Waldschutz beitragen, erhalten über eine Ausweitung ihrer Rechte und über zusätzliche Förderungen (die nicht an Auflagen und Vorgaben zur Nutzungsbeschränkung gekoppelt wären wie beim internationalen Waldschutzmechanismus REDD) eine Anerkennung ihrer Leistungen und eine Art Ausgleich für Jahrhunderte altes Unrecht.

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