Solidarität der Migrant*innen

Die Entwicklungsleistungen der Diasporas

 

VON BRIGITTE FAHRENHORST

Der folgende Text untersucht den Beitrag der Diasporas zur Armutsreduktion in ihren Heimatländern und beziffert die Dimensionen der Rücküberweisungen der Migrant*innen. Er greift auf von der Autorin durchgeführte Studien und internationale Statistiken zurück.

Während der Begriff Diaspora ursprünglich der Bezeichnung jüdischer Siedlungsgebiete in der Fremde diente, wurde er nach und nach ausgedehnt auf Siedlungsgebiete aller religiösen Gemeinschaften, die als Minderheiten in einem Land lebten. Mittlerweile benutzt man ihn auch für ethnische Minderheiten außerhalb ihrer Ursprungsregion.

Der Begriff Diaspora wird an bestimmte Verhaltensweisen geknüpft. Nach Lyons (2006:4) können nicht alle ethnischen Minderheiten oder Migrant*innen als Diaspora bezeichnet werden, sondern nur die, die sich als Gruppe oder Netzwerk für das und im Herkunftsland engagieren. Safran (1991:83-99) charakterisiert Diasporas als Minderheiten, die ihre kollektive kulturelle Identität auf das Herkunftsland beziehen, sich dem Land stark verbunden fühlen, sich seiner Entwicklung widmen und zurückkehren wollen. Soziologisch wird Diaspora charakterisiert als eine selbstdefinierte bzw. selbstkonstruierte transnationale Gemeinschaft, die sich eine gemeinsame Identität zuschreibt und die beansprucht, ihr Herkunftsland oder Gruppen aus dem Herkunftsland zu repräsentieren (Demmers 2007:8f). Diese enge Verbundenheit mit dem Herkunftsland führt dazu, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaften enorme Anstrengungen unternehmen, um die Herkunftsländer und ihre Bewohner*innen finanziell zu unterstützen.

 

Rücküberweisungen

Im Jahr 2018 stellten die Mitgliedsländer des Entwicklungskomitees [1] der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [2]die Summe von ca. USD 149,3 Mrd. (OECD 2019) für die öffentlich finanzierte Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zur Verfügung. Die Rücküberweisungen von Migrant*innen in die Länder mit geringem und mittlerem Einkommen betrugen im gleichen Zeitraum USD 529 Mrd. (World Bank 2019: 13). Zum Vergleich: Die direkten ausländischen Investitionen in die Entwicklungsländer lagen 2017 bei USD 671 Mrd. (UNCTAD 2018:X).

Die Rücküberweisungen der Diasporas in ihre Heimatländer sind enorm. Sie übersteigen die öffentliche Entwicklungsfinanzierung bei Weitem und unterscheiden sich stark von ihr und auch von den Direktinvestitionen. Sie sind nicht zweckgebunden. Es werden zumeist Familienmitglieder, Nachbar*innen und soziale, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen unterstützt, ohne ihnen vorzuschreiben, wie die Gelder verwendet werden müssen. Mithilfe von Video-Konferenzen werden – wie bei Auktionen - länderübergreifend Spenden für Entwicklungsaktivitäten gesammelt, die von Freund*innen und Familienangehörigen im Herkunftsland angeboten werden. Ein weiterer großer Unterschied besteht darin, dass die Gelder der Diasporas zu 100 Prozent im Herkunftsland ankommen. Sowohl bei der EZ als auch bei den Direktinvestitionen dagegen verbleiben große Summen im Geberland (wie Gehälter der Expert*innen oder Inlands-Mitarbeiter*innen, Finanzierung der Organisationsinfrastruktur, Sozialabgaben etc.) oder fließen, z.B. als Gewinne, wieder in die Geberländer zurück. Und diese Mittel sind zweckgebunden, indem sie entweder einer privaten gewinnorientierten Investition dienen oder der Finanzierung von Entwicklungsprojekten, die zwischen Regierungen ausgehandelt wurden. Beide Finanzierungsformen vertilgen auch vor Ort wiederum große Anteile der finanziellen Mittel für die Organisationsinfrastruktur. Der trickle-down-Effekt bis hinunter auf die Menschen vor Ort ist entsprechend gering. Diese werden auch selten an der Entscheidungsfindung beteiligt.

 

Der International Fund for Agricultural Development (IFAD) (2015:10) definiert Rücküberweisungen der Diasporas als grenzüberschreitende Zahlungen von Person zu Person mit einem relativ geringen Einzel-Wert. Das heißt, dass die einzelnen Überweisungen, die von den Diasporamitgliedern getätigt werden, nicht besonders hoch sind (i.d.R. USD 200 alle 1-2 Monate). Auch wenn diese Summe gering erscheint, ist sie für die beteiligten Menschen hoch – sowohl für die zumeist geringverdienenden Diaspora-Mitglieder als auch für die Empfänger-Familien im Herkunftsland. IFAD (2015:10) schätzt, dass diese Beträge 50% und mehr des Geld-Einkommens der Empfänger-Familien ausmachen. Sie führen die Familien aus der Verwundbarkeit, tragen zur Verbesserung der Ernährung, Gesundheit, Bildung und Behausung bei. Sie können auch den Zugang zu Kleinkrediten eröffnen. „Remittances (Rücküberweisungen) have been called the world’s largest poverty reduction programme”, so die IFAD (2015:11).

 

Empfängerländer begeistert von Rücküberweisungen

Auch für das Herkunftsland spielen die persönlichen Rücküberweisungen eine wichtige Rolle, da harte Währungen in das Land fließen, die Zugang zu internationalen Märkten oder den Schuldenabbau ermöglichen.

Land

Mrd. USD

Indien

78,6

China

67,4

Mexiko

35,7

Philippinen

33,8

Ägypten

28,9

Nigeria

24,3

Pakistan

21,0

Vietnam

15,9

Bangladesh

15,5

Ukraine

14,4

Empfängerländer der höchsten Rücküberweisungen 2018 (Weltbank 2019)

 

Land

% BSP

Tonga

35,2

Kirgistan

33,6

Tadschikistan

31,0

Haiti

30,7

Nepal

28,0

El Salvador

21,1

Honduras

19,9

Komoren

19,1

West Bank & Gaza

17,7

Samoa

16,1

Anteil der Rücküberweisungen am BSP (Weltbank 2019)

 

Welchen Stellenwert die Rücküberweisungen für die Wirtschaft der Empfängerländer haben, zeigt sich u.a. durch ihren Anteil am Bruttosozialprodukt (BSP, siehe Abbildung). Länder während oder nach Krisen überleben nur durch Rücküberweisungen. Das gilt z.B. für Somalia / Somaliland, wo auch die emotionale Bindung zwischen den Geflüchteten und Daheimgebliebenen extrem eng ist. Es gibt keine gesicherten Zahlen über Somalia /Somaliland, aber die Autorin schätzt, dass der Anteil der Rücküberweisungen am BSP bei mindestens 80% liegt. Um solch hohe Einnahmen weiterhin zu empfangen, möchten die Empfänger-Länder die Diaspora an sich binden. Sie bieten doppelte Staatsbürgerschaft oder eine sehr einfache Einbürgerung für die zweite, dritte oder vierte Generation von Migrant*innen und haben spezielle Institutionen zur Attraktion von Diaspora-Investitionen oder zur Stärkung der Beziehungen zu Diaspora-Mitgliedern eingerichtet. Sie bieten Informationen und Hilfen bei Investitionen. Viele Länder erlauben ihren Auswanderern die aktive und passive Teilnahme an Wahlen. [3]

 

Internationale Unterstützung des Engagements der Diasporas

Einige der Sustainable Development Goals (SDGs) befassen sich mit Migration und Diasporas: Das SDG 8 widmet sich u.a. der Bedeutung von Migrant*innen für die jeweilige Wirtschaft und mahnt menschenwürdige Arbeitsbedingungen an. SDG Ziel 10.7 fordert angemessene Migrationspolitiken, und das Ziel 10C formuliert, dass bis zum Jahr 2030 die Transaktionskosten (Überweisungsgebühren) weniger als 3% ausmachen dürfen bzw. alle Kanäle, die mehr als 5% Gebühren für die Rücküberweisungen verlangen, geschlossen werden.

Fast alle Geberländer haben entwicklungspolitische Fördertöpfe für Migrant*innen-Vereine aufgelegt. Häufig sind die Verfahren jedoch kompliziert und bürokratisch und werden daher von der Diaspora kritisiert. Sehr unbürokratisch dagegen hilft das dänische Außenministerium mit der Finanzierung von Containern. Die Diaspora-Mitglieder sammeln u.a. Computer, Bücher und Krankenhausausstattung, füllen Container, reichen ein einfaches Formular ein und erhalten ca. 5.000 Euro für die Verschiffung. Das britische Außenministerium (Department for International Development – DFID) fördert Migrant*innen beim Aufbau von Geld-Transfer-Organisationen.

 

Vertrauen ist die Basis zwischen der Diaspora und den Empfänger*innen

Zwischen der Diaspora und den Empfängern gibt es traditionelle und neue Überweisungsverfahren.

Zu den neuen gehört MPesa, das in einigen afrikanischen Ländern verbreitet ist. Geld kann hier mithilfe des Handys transferiert und an fast jeder Supermarkt-Kasse ein- bzw. ausgezahlt werden.

Viele Somalis, aber auch viele Syrer*innen und Andere, überweisen dagegen mit dem traditionellen Hawala-System. Ein Mittelsmann übernimmt das Bargeld der Diaspora, ein Anderer bringt es den Empfänger*innen. Die Information läuft per SMS. Das Geld wird nicht transferiert, sondern verbleibt im Land der Diaspora. Es wird für andere Handelsgeschäfte eingesetzt. Dieses System ist besonders den USA ein Dorn im Auge, da es undurchsichtig erscheint. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 unterbrachen die USA die Handy-Verbindungen von und nach Somalia mit der Begründung, über das Hawala-System würden Terrorakte finanziert. Ein ganzes Land wurde ins Elend gestürzt.[4]

Das Hawala-System ist jedoch einmalig. Hawala bedeutet Vertrauen. Vertrauen zwischen Sender*innen-Mittelsmann-Empfänger*innen erlaubt auch einen schnellen Geldtransfer an die kranke Oma oder Mutter, wenn die Sender*in selbst gerade kein Geld hat.


Nicht nur der Hawala-Geldtransfer basiert auf Vertrauen. Die ganze „Entwicklungsarbeit“ der Diasporas ist von der Überzeugung getragen, dass die Empfänger*innen schon am besten wissen, welche Leistungen vor Ort dringend gebraucht werden, und dass sie ihr Bestes geben, die Entwicklung im Herkunftsland in die Hand zu nehmen. Damit geben die Diasporas ein Lehrbeispiel für die staatliche, aber auch für viele nicht-staatliche EZ-Akteure.

Brigitte Fahrenhorst ist Migrationsforscherin, internationale Politikberaterin und lehrt an der TU Berlin internationale und nachhaltige Entwicklung. Auch privat engagiert sie sich für Migrant*innen.

 

Anmerkungen:

1 Development Assistance Committee (DAC)

2 Organization for Economic Cooperation and Development (OECD)

3 Erinnerung: Deutschland-Rundreise des türkischen Präsidenten Erdogan zur Liebeserklärung an die türkisch-deutsche Diaspora

4 Anmerkung der Redaktion: Ganz aktuell ist das Hawala-System auch in Deutschland Thema geworden, weil kriminelle Clans es für Geldwäsche missbrauchen.

 

Quellen:

Demmers, Jolle: New Wars and Diasporas: Suggestions for Research and Policy, in: Journal of Peace, Conflict & Development, Issue11, November 2007, www.peacestudiesjournal.org.uk

International Fund for Agricultural Development (IFAD) and the World Bank Group: The Use of Remittances and Financial Inclusion. A report prepared to the G20 Global Partnership for Financial Inclusion. September 2015

Lyons, Terrence: Conflict-Generated Diasporas and Peacebuilding: A Conceptual Overview and Ethiopian Case Study. University for Peace Expert Forum on Capacity Building for Peace and Development: Roles of Diasporas, Toronto, 19-20 October 2006

Organization for Economic Co-operation and Development (OECD): Development Aid Drops in 2018, Especially to Neediest Countries, 10/04/2019. http://www.oecd.org/newsroom/development-aid-drops-in-2018-especially-to-neediest-countries.htm

Safran, William: Diasporas in Modern Societies: Myths of Homeland and Return. In: Diaspora: A Journal of Transnational Studies. 1, 1991, S. 83–99

United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD): World Investment Report 2018, Investment and New Industrial Policies, Key Messages and Overview, Page X. https://unctad.org/en/PublicationsLibrary/wir2018_en.pdf

World Bank Group / knomad: Migration and Remittances. Recent Developments and Outlook, Migration and Remittances Team Social Protection and Jobs World Bank, April 2019, www.knomad.org/sites/default/files/2019-04/Migrationanddevelopmentbrief31.pdf