Wann kommt die Selbstbestimmung für die Westsahara?

Interview mit Nadjat Hamdi, Vertreterin der Frente POLISARIO in Deutschland
 

Der Konflikt um die von Marokko völkerrechtswidrig besetzte Westsahara ist der letzte ungelöste Kolonialkonflikt in Afrika. Vor 47 Jahren hatte die ehemalige Kolonialmacht Spanien ihre Gebiete Saguia el Hamra und Río de Oro den beiden Nachbarstaaten Marokko und Mauretanien überlassen. Seit dem Rückzug Mauretaniens ist der größte Teil der Westsahara von Marokko besetzt, dessen Militär 1975 Hunderttausende Sahrauis zu Flüchtlingen machte. Bis heute leben sie und ihre Nachfahren in 5 Flüchtlingslagern nahe dem algerischen Tindouf.

Bis 1991 kämpfte die 1973 gegründete sahrauische Befreiungsbewegung POLISARIO („Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro“) mit militärischen Mitteln gegen Marokko. Nach einem von der UNO ausgehandelten Waffenstillstand zwischen beiden Seiten sollten die Menschen 1991 per Referendum über ihre Zukunft entscheiden. Marokko blockierte jedoch die von der MINURSO (UN-Mission für ein Referendum) vorbereitete Abstimmung. Bis heute verweigert der Maghrebstaat den Zugehörigen des Volkes der Westsahara, den Sahrauis, ihr völkerrechtlich garantiertes Selbstbestimmungsrecht. Und begeht zudem, Seite an Seite mit der EU, durch die Ausbeutung der mineralischen Rohstoffe und des Fischreichtums der besetzten Gebiete weitere und mehrmals vom Europäischen Gerichtshof (EUGH) monierte Völkerrechtsverletzungen.

Deutschlands Position zur Westsahara ist zumindest widersprüchlich. Als EU-Land profitiert Deutschland von Handelsabkommen mit Marokko, die die besetzten Gebiete trotz der Urteile des EUGHs bis heute miteinbeziehen. Diplomatisch hat sich Deutschland dagegen immer zum Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis bekannt und dies auch bis vor kurzem durchgehalten, als Donald Trump Ende 2020 in einer letzten Amtshandlung Marokko die Souveränität über die Westsahara zuerkannte. Doch seit dem Amtsantritt der grünen Außenministerin Annalena Baerbock sind aus dem Auswärtigen Amt erstmals Marokko-freundlichere Töne zu hören.

Über diese Entwicklung sprachen wir mit Nadjat Hamdi, Vertreterin der POLISARIO in Deutschland.

 

ASW: In mehreren Zeitung war kürzlich zu lesen, dass die neue deutsche Außenministerin einen Schwenk vollzogen hat und statt des Beharrens auf dem Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis nun den marokkanischen  Plan einer Autonomielösung für die Westsahara unter marokkanischer Oberherrschaft unterstützt. Stimmt das? 

Nadjat Hamdi: Wir haben natürlich alle bemerkt, dass das Auswärtige Amt am 13. Dezember 2021 seine Website aktualisiert hat und nun erstmals in seiner Geschichte von einem Autonomieplan Marokkos schreibt. Eigentlich hat sich Deutschland immer neutral verhalten und davon gesprochen, dass es die Bemühungen der Vereinten Nationen für eine friedliche Lösung des Konflikts unterstützt. Darum macht es uns stutzig, dass Deutschland nun erstmals Notiz von dem 2007 entworfenen Autonomieplan nimmt.

"Marokko kann nicht anbieten, was ihm nicht gehört"

Wir wissen alle, dass die Beziehung von Marokko und Deutschland in den letzten Jahren nicht die beste war, was unter anderem an Deutschlands Haltung in dem Westsaharakonflikt liegt und Deutschland, wie alle anderen europäischen Länder nicht Trump gefolgt ist, die sogenannte Souveränität Marokkos über die Westsahara anzuerkennen. Der Maghrebstaat hatte gehofft, dass die Europäer der neuen US-Linie folgen würden. Das taten sie nicht. Als Folgen versuchte Marokko u.a. Spanien zu erpressen, indem es Migrant*innen in Ceuta und Melilla über die Grenzen ließ. Oder auch, indem es die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland auf Eis legte.

Offiziell hat Deutschland aber bestätigt, dass sich an der grundsätzlichen Haltung zur Westsahara nichts geändert hat: Weiterhin werde man nach einer gerechten Friedenslösung für die Westsahara suchen. Zu prüfen wäre nur, ob nicht auch eine Autonomie ein guter Beitrag zu einer friedlichen Lösung sein könne.

Das Problem ist allerdings, dass Marokko mit „Autonomie“ eine Zementierung der Besatzung meint. Und das funktioniert so nicht. Marokko kann uns keine Autonomie anbieten, bevor es nicht die Frage der Souveränität geklärt hat. Und letztere liegt nicht in Marokkos Hand. Das internationale Recht garantiert uns Sahrauis das Recht auf Selbstbestimmung. Marokko kann uns nichts anbieten, was ihm nicht gehört!

 

"In der Westsahara kann man keinen sauberen Wasserstoff herstellen"

ASW: Hast du bereits davon gehört, dass Deutschland zusammen mit Marokko eine Kooperation zur Herstellung von grünem Wasserstoff aufgenommen hat? Und könnte nicht auch das bei der neuen Annäherung eine Rolle spielen?

Davon habe ich jetzt auch schon oft gelesen, aber ich will wirklich hoffen, dass das kein Grund ist, auch wenn ich die Notwendigkeit zur Produktion erneuerbarer Energien natürlich sehe. Die GRÜNEN sind aber stark den Menschenrechten verpflichtet und wissen, dass man in der Westsahara keinen „sauberen“ Wasserstoff herstellen kann; die sozialen und menschenrechtlichen Kosten wären dafür zu hoch. Der Wasserstoff wäre weder sauber noch grün, wenn er auf Grundlage einer Besatzung produziert würde. Und ich glaube nicht, dass die GRÜNEN so oberflächlich sind und das nicht unterscheiden können. Sie können ja nicht in einer Region Energie produzieren, wo der Großteil der Dörfer noch ohne Strom lebt.

 

"Nur ein Referendum kann uns sagen, wo die Menschen ihre Zukunft sehen"
 

ASW: Wünscht sich denn auch heute noch die Mehrheit der Sahrauis einen eigenen Staat? Oder könnte es sein, dass – sofern endlich ein Referendum stattfinden würde – viele Menschen auch für diese Autonomie unter dem Dach Marokkos stimmen würden?

Wir gehen davon aus, dass sich die Mehrheit der Sahrauis für die staatliche Unabhängigkeit aussprechen würde. Die Menschen in den Flüchtlingslagern und im Exil ohnehin, denn sie sind der POLISARIO eng verbunden. Aber auch die Menschen im besetzten Gebiet. Das vermuten wir auf Grundlage des mutigen Protests gegen das Besatzungsregime, den marokkanische „Sicherheitskräfte“ in Form von Hausarrest, aber auch Entführungen und Mord, versuchen zu unterdrücken.

Aber natürlich, um letztlich genau zu wissen, wer für die Unabhängigkeit stimmt, kämpfen wir dafür, dass ein Referendum stattfindet und hier Klarheit bringt. Dann werden die Menschen endlich selbst sagen können, wo sie ihre Zukunft sehen. Ob sie einen eigenständigen sahrauischen Staat wollen oder lieber mit Autonomierechten unter marokkanischer Herrschaft leben wollen. Genau dazu brauchen wir das Referendum.

 

ASW: Wer sollte denn aus Sicht der POLISARIO an einem solchen Referendum teilnehmen? Wenn z.B. alle Bewohner*innen der besetzten Gebiete abstimmen dürften, würden dann die Sahrauis nicht ohnehin von den marokkanischen Neubürgern überstimmt?
 

Wir beziehen uns da immer noch auf den James Baker Plan II. Der sieht vor, dass sich alle Marokkaner*innen am Referendum beteiligen dürfen, die bis 1999 in die Westsahara umgesiedelt sind. Die Basis sollte ein Identifikationsprozess der MINURSO von 1991- 2000 sein. Die POLISARIO hat diesem zugestimmt und damit auch, dass diese Marokkaner mit abstimmen dürfen.

Außerdem war eine 5-jährige Übergangszeit angesetzt. Sahrauis aus den Camps sollten in besetztes Gebiet zurückkehren und dort 5 Jahre Erfahrungen unter marokkanischer Verwaltung sammeln und erst danach abstimmen. Doch selbst diese Zugeständnisse blockierte Marokko. Vielleicht spielt dabei die Sorge eine Rolle, dass auch marokkanische Neubürger gerne von Marokko unabhängig wären. Das wundert uns. Denn in den besetzten Gebieten leben mehr Marokkaner*innen als Sahrauis.  

Leider ist die Situation heute schon wieder eine ganz andere. Bekanntlich herrscht seit dem 13. November 2020 wieder Krieg zwischen der Frente POLISARIO und Marokko. Der UN-Sicherheitsrat bleibt untätig und die MINURSO ist komplett gescheitert. Hier müssten erst ganz neue Grundlagen geschaffen werden.
 

"Ohne Druck des Sicherheitsrates auf Marokko kann auch Staffan de Mistura nichts bewirken" 
 

ASW: Denkst du, dass der neue Sondergesandte des UN-Generalsekretärs, Staffan de Mistura, den Prozess beeinflussen kann?

Ehrlich gesagt sind wir mittlerweile sehr ernüchtert und warten ab. De Mistura ist zwar sehr erfahren und hat sich mit allen beteiligten Parteien getroffen, aber die letzten 30 Jahre haben uns gezeigt, dass der UN-Sicherheitsrat unfähig ist, seinen eigenen Plan durchzusetzen. Viel Hoffnung haben wir nicht. Er ist der fünfte und nicht der erste Sondergesandte. Ohne dass der UN-Sicherheitsrat endlich beginnt, massiv Druck auf Marokko auszuüben, wird auch ein neuer Sondergesandter des UN-Generalsekretärs nicht viel bewirken können. Und das ist auch das, was wir bei allen anderen Staaten kritisieren: Diese maßlose Heuchelei. Alle unterstützen die Bemühungen um eine friedliche Lösung des Konflikts. Gleichzeitig beteiligen sich fast alle an der Ausbeutung der sahrauischen Ressourcen.

Das Interview führten Isabel Armbrust und Franziska Kohlhoff am 22.02.2022 in Berlin