Deutschland muss klarer für das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis eintreten

Interview mit Nadjat Hamdi, Vertreterin der frente POLISARIO* in Deutschland


ASW: Was sind aus deiner Sicht aktuell die wichtigsten Entwicklungen, was die Westsahara anbetrifft?

Nadjat Hamdi: Ihr habt es ja schon in eurem Appell gesagt, dass einige europäische Staaten sich auf Marokko zubewegt haben. Die Europäer brauchen Marokko zur Migrationskontrolle. Und Marokko sagt ganz klar: Beziehungen zu uns gehen nur, wenn ihr uns die Souveränität über die Westsahara zugesteht.
Soweit wollen die Europäer noch nicht gehen. Deutschland z.B. beteuert auf Nachfrage immer, dass es sich an den UN-Friedensplan gebunden sieht, der ein Referendum über die Frage der staatlichen Zugehörigkeit der Sahrauis beinhaltet. Andererseits öffnet sich Deutschland scheinbar auch für „marokkanische“ Lösungen. Erstmals im Herbst 2021 sprach das Auswärtige Amt auf seiner Website davon, dass der von Marokko vorgeschlagene Autonomieplan für die Westsahara eine Lösung sein könnte. Und die Außenministerin hat eine ähnliche Formulierung auch in einer Presseerklärung nach einem Marokkobesuch im August 2022 verwendet:

Die deutsche Haltung zum Westsaharakonflikt war immer die, dass wir auf den VN-geführten Verhandlungsprozess setzen. Dieser bietet unserer Ansicht nach den besten und erfolgversprechendsten Rahmen für eine politische Lösung des Konflikts um die Westsahara. Wir unterstützen die Bemühungen des UN-Sondergesandten Staffan de Mistura, eine gerechte, dauerhafte und für alle Seiten annehmbare politische Lösung zu erwirken. Der marokkanische Autonomieplan von 2007 kann dafür eine gute Basis darstellen (…). (O-Ton des Auswärtigen Amts in der Regierungspressekonferenz vom 24.08.2022)

Leider zieht ein solches Aufweichen von Positionen mehr nach sich. Zum Beispiel bezog sich auch der spanische Ministerpräsident Sanchez auf Deutschland, als er im vergangenen Jahr vom Kurs Spaniens in der Westsaharafrage abwich und die Autonomielösung für diskutierbar erklärte: "Spanien betrachtet die von Marokko 2007 präsentierte Autonomie-Initiative als die seriöseste, realistischste und glaubwürdigste Grundlage zur Lösung des Streits“, so Sanchez.

 

ASW: Wird es also immer schlechter?

Nadjat Hamdi: Nein, es gibt immer wieder Hoffnung. Wir warten nun auf ein drittes Urteil des Europäischen Gerichtshofes(EuGH) in Luxemburg, der in zwei vorangegangenen Urteilen die Handels- und Fischereiabkommen der EU mit Marokko für rechtswidrig erklärt hatte. Zuletzt hatte er im September 2021 moniert, dass bei der wirtschaftlichen Nutzung der Ressourcen des besetzten Territoriums  die Zustimmung des Volkes der Westsahara nicht eingeholt worden ist. Die wirtschaftliche Ausbeutung der besetzen Gebiete ist in der aktuellen Form illegal.

Das Assoziationsabkommen der EU mit Marokko ist zum 11.07.23 ausgelaufen und bis zum Revisionsverfahren, das für Dezember 2023 angesetzt ist, ist Handel und Fischerei aus und vor der Küste der Westsahara ausgesetzt. 93 spanische Fischereitrawler müssen abziehen, obwohl Spanien zunächst trotzdem weiterfischen wollte. Doch die EU- Kommission erklärte, dass eine Verlängerung des Protokolls vor dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (im Berufungsverfahren) nicht möglich sei. Also wird nun bis Dezember 2023 gewartet.

 

ASW: Wie steht es mit dem im Herbst 2020 wieder ausgebrochenen Krieg zwischen der frente POLISARIO und Marokko?

Nadjat Hamdi: Der Krieg geht  weiter, völlig unbeachtet von der Welt. Vor allem durch marokkanische Drohnenangriffe sterben regelmäßig Menschen, auch Zivilisten, die zum Teil  Güter nach Mauretanien transportieren. Unter den Opfern sind auch Menschen aus Mauretanien und Algerien. Die Drohnen, mit denen Marokko arbeitet, kommen vor allem aus der Türkei und Israel.
 

ASW: Kannst du uns am Schluss noch sagen, was du und die anderen Vertreter:innen der Sahrauis  sich im jetzigen Moment von Deutschland und der Europäischen Union wünschen?

Nadjat Hamdi: Deutschland kann und soll sein Gewicht für ein Ende der marokkanischen Besatzung und die Wahrung der UN-Charta in die Waagschale werfen. Und "den Aggressor beim Namen"  nennen.

Deutschland steht für die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, aber das saharauische Volk wartet immer noch auf die Einlösung dieses Rechts. Und es ist eine Frage der deutschen Glaubwürdigkeit, dass Deutschland selbst und innerhalb der EU sich gegen die illegale Ausbeutung der sahrauischen Ressourcen ausspricht, jetzt und konkret.   

Deutschland muss sich gegen die gewaltsame Verschiebung von Grenzen auch dann einsetzen, wenn dieses außerhalb von Europa geschieht.

Wir fordern Deutschland auf, keinen Autonomieplan über die Köpfe der Sahrauis hinweg zu unterstützen, das saharauische Volk hat das Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit.  Wie über die Zukunft der Ukraine nur mit ukrainischen Vertreter:innen, kann auch über die Zukunft der Westsahara nur mit den offiziellen Vertreter:innen der Sahrauis verhandelt werden.

Das Interview führten wir am 26.06.2023 in Berlin

* Die frente POLISARIO ist die politische Vertretung der Sahrauis, der Bewohner:innen der Westsahara

 

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