Indien: Nahrungsmittel gegen Irisscan

11.06.2018 · 16:51 Uhr

Indien ist nicht nur die größte Demokratie der Welt, sondern verfügt mit Aadhaar, wörtlich Grundlage, schon jetzt über das weltweit größte biometrische Einwohnerregister. 99 Prozent aller Inder und Inderinnen sind bereits erfasst und die Vision der Regierung ist eine nahe Zukunft, in der 1,35 Milliarden Menschen über ihre persönliche und mit biometrischen Daten abgestützte 12-stellige Identifikationsnummer ihren Alltag gestalten, Anträge bei Behörden und Dienstleistern stellen, ein Bankkonto eröffnen und Sozialleistungen beziehen.

Bei den staatlichen Unterstützungssystemen hat die Umsetzung längst begonnen. In der Hauptstadt Delhi z.B. kann seit Anfang 2018 nur noch Reis aus dem öffentlichen Nahrungsverteilungsprogramm erhalten, wer in Aaadhaar seine Fingerabdrücke und Irisscans hinterlegt hat. Das Argument der Regierung, dass Aadhaar vor allem den Armen nutzt, weil sie endlich erfasst würden und damit in den Genuss von Sozialleistungen kämen, während gleichzeitig Sozialbetrug bekämpft würde, trägt aus Sicht von Aadhaar-Kritikern nicht: Weiterhin gehen Mittel aus dem staatlichen Lebensmittelverteilungsprogramm (PDS) nicht deshalb verloren, weil nichtberechtigte Menschen sich Zugang zu Lebensmitteln verschaffen würden. Es sind eher die für die Verteilung zuständigen Beamten, die Lebensmittel abzweigen und anderweitig verkaufen.


Die wirklich Armen dagegen tragen die Nachteile. Menschen z.B., die nicht mobil sind und sich daher nicht biometrisch erfassen lassen können, fallen aus dem Nahrungsmittelhilfebezug. Es häufen sich außerdem Berichte von bereits erfassten Beziehern, die ihre Ration nicht bekamen, weil ihre in Aadhaar hinterlegten Fingerabdrücke nicht mit den realen (und durch harte Arbeit veränderten) Fingerprofilen übereinstimmten.

Aktuell arbeitet die Regierung unter Hochdruck an einer Koppelung von Aadhaar und den nationalen Wohlfahrtsprogrammen. Indiens Oberstes Gericht hatte in einem Urteil im März 2018 immerhin den Stichtag verlängert, bis zu dem das Nahrungsmittelverteilungssystem obligatorisch mit Aadhaar verknüpft sein muss. Private und andere staatliche Dienstleister dagegen dürfen von Kunden noch nicht ihre persönliche biometrische Identifikationsnummer einfordern. Der Oberste Gerichtshof hatte erklärt, dass erst über die zahlreichen Einsprüche entschieden werden muss, bevor Aadhaar auf weitere Bereiche ausgeweitet werden kann.

Sollte diese Praxis irgendwann das höchstrichterliche o.k. erhalten, dann ist aus Sicht des in Indien lehrenden belgischen Ökonomen Jean Drèze der Überwachungsstaat da. Denn dank der Zugriffe von Dienstleistern auf die persönliche Identifikationsnummer wird es für die staatlichen Hüter der Daten kinderleicht sein, so Drèze, zu tracken, wohin sich die Person sich bewegt, wen sie kennt, was sie kauft, mit wem sie telefoniert, was auf ihrem Bankkonto passiert.