Corona in Brasilien - Quilombolas sind stark betroffen

Vernachlässigung, Rassismus und Nekropolitik

 


Brasiliens Regierungen haben sich ihrer Verantwortung gegenüber den afro-brasilianischen Quilombolas noch nie gestellt. Seit Beginn der Corona Pandemie ist die gesundheitspolitische Vernachlässigung dieser Gemeinschaften geradezu fahrlässig. Nun kämpfen die Nachfahren ehemaliger Sklav*innen selbst für ihre Gesundheit und klagen den Brasilianischen Staat an.

 „Wir haben nicht einmal Zugang zu einer Grundversorgung, um dem Coronavirus entgegenzutreten“, berichtet Raimundo Magno, Quilombola-Führer  der Gemeinde Pará in Moju. Damit fasst er die weithin mangelnde Unterstützung von Quilombola-Gemeinschaften in ganz Brasilien durch die Brasilianischen Regierung zusammen: Es wurde weder ein spezifisches Konzept zum Schutz der zum Teil abgeschiedenen Gemeinschaften entwickelt, noch gibt es offizielle Statistiken zu Infizierten oder Todesfällen.

„Es fehlt an Wasser, Essen, Ärzten, Corona-Tests, Medikamenten, Masken und Informationen. Kurzum: Es fehlt an Allem!“, klagt Magno. Die Lebensweise der Quilombola-Gruppen ist naturnah.  Landwirtschaft und Fischerei werden im Familienverbund zur Selbstversorgung betrieben. Alle Überschüsse werden verkauft. Die monatelange Isolation, um sich vor dem Coronavirus zu schützen, brachte die Haushaltseinkommen aus dem Gleichgewicht: Ernten verdarben auf den Feldern und die neue Aussaat wurde ausgesetzt. Damit mangelt es jetzt und in Zukunft an Lebensmitteln.

Quilombola-Gemeinden errichten Barrieren gegen Corona

Hinzu kommt, dass die selbstgewählte Isolation der Gemeinschaften von Außenstehenden nicht akzeptiert wird: „Unsere Gemeinden befinden sich oft in der Nähe großer Bergbau- und Agrarunternehmen oder Stränden. In der Pandemie hat niemand unsere Isolation respektiert. Wir mussten erneut kämpfen, um unsere Gebiete zu schützen “, sagt Givânia da Silva, Mitglied der CONAQ (Nationale Koordination zur Artikulation schwarzer ländlicher Quilombola-Gemeinschaften).

Um ein Minimum an Sicherheit und Isolation zu gewährleisten, haben einige Gemeinden improvisierte Barrieren gebaut, die sie Tag und Nacht im Schichtdienst bewachten. Doch auch diese wurden teilweise von Händler*innen oder Arbeiter*innen ignoriert. Parallel wurde Aufklärungsarbeit geleistet, damit die Menschen ihre Gemeinden nicht für Stadt- und Marktbesuche oder dem Besuch der Messe verlassen. Zudem wurden Mund-Nasen-Schutzmasken, Desinfektionsmittel und Handschuhe verteilt. Alles aus Spenden von Partnerorganisationen und Unternehmen finanziert.

„Wir mussten hart kämpfen, um Unterstützung vom Staat zu bekommen. Und als sie kam, wurden nicht einmal ein Fünftel unserer Forderungen erfüllt“, erklärt Magno, der als Mitglied des bundesstaatlichen Dachverbands Malungu im Kampf um die Rechte der Quilombola-Gemeinschaften im Bundesstaat Pará an vorderster Front steht.

 „Das ist staatlicher Rassismus. Diese Art der Behandlung unseres Volkes hat nur einen Zweck: Wir werden absichtlich vernachlässigt und das nennt man Nekropolitik“, prangert Magno an. Nekropolitik übersetzt der schwarze Intellektuelle Achille Mbembe mit der Macht des Staates, zu entscheiden, wer in einer Gesellschaft leben darf und wer sterben muss.

Fehlende Hilfeleistungen verschlechtern die Lage in den Quilombos

Ohne zu wissen, ob sie infiziert waren oder nicht, beobachteten die Menschen, wie ganze Gemeinden von Fieber, Husten und Atemnot erfasst wurden. Ohne Tests oder Hilfe kümmern sie sich selbst um ihre Patienten. Angesichts neuer Virus-Mutationen und der schleppend vorankommenden Impfungen der brasilianischen Bevölkerung wird die Situation tendenziell noch dramatischer. Allein Hausmittel und traditionelles Wissen können die Symptome des Virus in den Gemeinden lindern.

„Die Vernachlässigung der Quilombola ist nichts Neues. Die Corona-Pandemie hat nun dazu beigetragen, das zu verschlechtern, was in unseren Gebieten bereits ohnehin schon im Argen lag“, sagt Raimundo Magno.

Für Hilton Silva, Professor in der Abteilung für Anthropologie an der Bundesuniversität von Pará und Mitglied der brasilianischen Vereinigung für kollektive Gesundheit (ABRASCO), ist die Situation der „Verwundbarkeit“, in der die meisten Quilombola-Gemeinschaften im ganzen Land leben, ähnlich, wie für die Indigenen. Sie haben dieselben schlechten sanitären Bedingungen sowie eine mangelnde Gesundheits- und Nahrungsmittelversorgung. Laut Silva gibt es eine hohe Anzahl von Menschen in der Quilombola-Bevölkerung, die an Krankheiten wie Diabetes, Tuberkulose, Sichelzellenanämie und Bluthochdruck leiden, die mit Umwelt- und genetischen Faktoren zusammenhängen. Damit ist ein Großteil als Risikopatienten einzustufen.

Mangel an offiziellen Daten über Quilombolas

In der amtlichen Statistik liegen keine Daten zur Quilombola-Bevölkerung vor. Die Volkszählung 2020, die Daten zu den Quilombola-Gemeinschaften auf dem gesamten Staatsgebiet liefern sollte, musste wegen der Pandemie verschoben werden. Dies beeinflusste letztendlich die Reihenfolge der Prioritäten des Nationalen Impfplans gegen Covid-19, in dem die Quilombola-Bevölkerung in der Prioritätswarteschlange unter den in den ersten drei Impfphasen zu immunisierenden Gruppen nicht berücksichtigt wird.

Die vom Gesundheitsministerium vorgebrachte Rechtfertigung dafür, dass Quilombola nicht schon in der ersten Phase geimpft werden, war genau das Fehlen von Daten über diese Bevölkerung. Diese werden normalerweise vom Ministerium mit Unterstützung der IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística, brasilianisches Statistikinstitut) analysiert und ausgewertet. Die Impfung der Quilombola ist nun für die vierte Phase geplant, zusammen mit Lehrer*innen, Fachleuten der öffentlichen Sicherheit und anderen. Einen genauen Termin dafür gibt es aber noch nicht.

Einige Bundesstaaten, so auch Pará, beabsichtigen jedoch, trotz der geringen Anzahl von Impfstoffen, die Immunisierung von Quilombola-Gemeinschaften voranzutreiben.

Der Mangel an Daten hat auch den Kampf gegen die Pandemie in den Quilombola-Gebieten beeinträchtigt. Es gibt keine offiziellen Erhebungen über die Anzahl von Infizierten und Todesfällen infolge von Covid-19. Aus diesem Grund haben Führungskräfte und Partnerorganisationen wie das Instituto Socioambiental (ISA) und die Universität von Pará (UFOPA) begonnen, die Anzahl der Kranken selbst zu ermitteln, zunächst auf nationaler und dann auf regionaler Ebene. Zu diesem Zweck haben sie ein Informationsnetz mit Gemeindeverbänden eingerichtet, die täglich per Telefon oder WhatsApp (wenn es Internet gibt) über das Fortschreiten der Krankheit informieren.

Netzwerk ermittelt Zahl der Corona-Kranken

ISA unterhält in Zusammenarbeit mit CONAQ ein Observatorium „Quilombo ohne Covid 19“, das nationale Schätzungen auf Krankheitsfälle in den Gemeinden zusammenstellt. Das Team der UFOPA hat sich gemeinsam mit der ASW-Partnerorganisation Malungu bemüht, die Anzahl der Fälle im Bundesstaat Pará zu berechnen, dem Bundesstaat, in dem die meisten von Covid-19 getöteten Quilombola registriert wurden. Bis Mitte Februar 2021 registrierten sie 4.926 bestätigte Fälle der Krankheit bei den Quilombola und 205 Todesfälle.

Laut einer von Malungu durchgeführten Umfrage hat der Bundesstaat Pará eine Quilombola-Bevölkerung von 6.000 Menschen und eine geschätzte Covid-19-Infektionsrate von 37%. Laut dieser Umfrage wurden in Pará 2.238 Fälle von Covid-19 in Quilombola-Gemeinden und 2.175 Verdächtige ohne medizinische Behandlung registriert. Der Bundesstaat Pará führt die Rangliste der Todesfälle aufgrund der Krankheit unter den Quilombola mit insgesamt 62 Fällen an.

Bislang werden alle Daten geschätzt und können nicht als „definitive Zahlen“ betrachtet werden, erklärt Givânia da Silva. Dies liegt daran, dass die Zugangsschwierigkeiten, Entfernungen und mangelnde Kommunikation den Kontakt zu Gemeinden in verschiedenen Regionen des Landes erschweren, insbesondere in einem Kontext, der Isolation erfordert.

 „Die Regierung hat sich nie darum gekümmert, echte Daten über die Quilombola-Bevölkerung zu sammeln und nun haben Corona und unsere Hartnäckigkeit diese Realität ans Licht gebracht. Die Regierung hat nicht einmal eine Grundlage, um zu berechnen, wie viele Impfstoffe sie in unsere Gemeinden schicken muss “, sorgt sich Raimundo Magno.

Kampf für die Menschenrechte in der Pandemie

Mário Santos, Leiter der Gemeinde Quilombola Gibrié de São Lourenço, Pará, erklärte: „Wir sollen als Quilombola unsichtbar werden. Deshalb haben sie nicht den Plan gemacht, den sie hätten machen sollen: einen Kampfplan gegen die Pandemie in den Quilombos“. Das derzeitige Fehlen staatlicher und kommunaler Notfallpläne zur Bewältigung der Zunahme von Coronavirus-Fällen bei Quilombolas unterstreicht die bereits bestehende Vulnerabilität dieser Bevölkerungsgruppe.

Im Juli 2020 wurde vom Nationalen Kongress ein Gesetzesentwurf genehmigt, der eine Reihe von Sozialschutzmaßnahmen vorsah, um die Ansteckung und Verbreitung von Covid-19 in indigenen Gebieten, Quilombos und unter anderen traditionellen Gemeinschaften zu verhindern. Präsident Jair Bolsonaro genehmigte zwar den Entwurf, legte allerdings gegen 22 Forderungen sein Veto ein. Darunter: universeller Zugang zu Trinkwasser, kostenlose Verteilung von Hygienematerialien, Reinigung und Desinfektion von Oberflächen, Notversorgung mit Krankenhausbetten und Intensivstationen, Erwerb von Beatmungs- und Sauerstoffgeräten. Auch gegen die Erstellung von Notfallplänen für Quilombolas und andere traditionelle Gemeinschaften sowie die Verteilung von Informationsmaterial über Covid-19 legte der Präsident Veto ein.

Ein erster Sieg für Quilombola-Gemeinschaften

Erst im September 2020 gelang den Quilombola ein erster Erfolg: Nach mehreren Anfragen sozialer Organisationen an das Gesundheitsministerium, reichte CONAQ beim Obersten Gerichtshof eine Erklärung über die Nichteinhaltung des Grundgesetzes ein, ein Rechtsinstrument, das zur möglichen Wiedergutmachung von Schäden verwendet wird, wenn der Staat gegen die Bundesverfassung verstößt. So wurde der Staat wegen Unterlassung verurteilt und die Erstellung eines spezifischen Notfallplans zur Bekämpfung der Pandemie in Quilombola-Gemeinschaften gefordert. Fünf politische Parteien unterzeichneten das Dokument ebenfalls.

Die Anwältin von Terra de Direitos und Unterstützerin der CONAQ-Aktion, Vercilene Francisco Dias, aus der Quilombola-Gemeinde Kalunga im Bundesstaat Goiás, sagt, dass diese Aktion historisch ist, da sich Quilombola zum ersten Mal selbst direkt an den Obersten Gerichtshof gewandt haben, ohne Unterstützung anderen Institutionen.

Sieben Monate später, am 12. Februar 2021, erkannte der Minister Marco Aurélio de Mello, die Legitimität von CONAQ als Kläger und die Forderung als begründet an. Nach Angaben des Ministers wurde nun beschlossen, innerhalb von 30 Tagen einen Notfallplan zur Bekämpfung von Covid-19 in Quilombola-Gebieten und entsprechende Kriterien für die offiziellen Zählungen des Gesundheitsministeriums innerhalb von 72 Stunden zu erstellen. Marco Aurélio erkannte auch die Dringlichkeit der Immunisierung der Quilombola an.

Es gibt weiterhin viel zu tun

Dennoch ist CONAQ mit der Entscheidung nicht zufrieden, denn das größte Versäumnis des Staats in diesem Zusammenhang ist die schlechte Verteilung von Trinkwasser, Lebensmitteln, persönlicher Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln.

 Die Gemeinden leiden sehr darunter, dass ihnen jedwede Grundrechte verweigert werden. Wir sind in einer sehr schwierigen Zeit, einer Zeit mit viel Kampf, viel Protest und einem verzweifelten Versuch, den Staat dazu zu bringen, die Rechte und Schwierigkeiten anzuerkennen, in denen traditionelle Gemeinschaften leben“, beschwert sich Magno.

Artikel von Cícero Pedrosa Neto (Text und Fotos), Sam Schramski und Adriana Abreu, übersetzt und gekürzt von Silke Tribukait und Franziska Kohlhoff

Video zur Arbeit von ASW-Partner*innen in der Coronakrise (deutsch untertitelt)

Dieser Artikel konnte dank der Unterstützung des Rainforest Journalism Fund und des Pulitzer Centers geschrieben werden.