Indien: Arbeitsmigration ist meist eine leidvolle Erfahrung

„Wir können unseren Familien nicht die Wahrheit erzählen. Sie würden uns nicht mehr erlauben zu gehen“, sagt ein Bewohner des Dorfes Alisisashan im Bundesstaat Odisha. „Auch unseren Freunden berichten wir eher von den guten Dingen, die wir erlebt haben.“

Rund 10 Männer haben sich an einem regnerischen Vormittag im Februar 2020 in einem Raum der ASW-Partnerorganisation JJS zusammengefunden, um uns ihre Geschichten zu erzählen. Alle sind oder waren temporäre Arbeitsmigranten. Gegangen sind sie meist aus Not, weil die von Dürren und Überschwemmungen heimgesuchte Landwirtschaft kein sicheres Auskommen mehr bietet. Von ihren Berichten erhoffen wir, die menschliche Seite dieser sogenannten „Distress-Migration“ besser zu verstehen.
 

Arbeitsmigration als  "Anpassung an den Klimawandel"?

Der junge Bopul (Namen im Text geändert) ging als ausgebildeter Mechaniker in eine Firma nach Bangalore. Als einziger des Dorfes beschreibt er seine Zeit auswärts als eine gute Zeit. „Wir waren 10 Männer aus Odisha. Mit drei Kollegen teilte ich mir eine Mietwohnung. Ich war zufrieden“. Nur mit dem Essen kam er nicht gut klar. Statt der reichen Gemüseküche, die er aus Odisha kannte, gab es immer nur Sambar und Idli (kalte, leicht säuerliche Reisfladen). Auch in die Sprache des Bundesstaates, das Kannada, hineinzukommen, war schwierig. Weil er die dortige Schrift nicht lesen konnte, hat er beim Zugfahren manchmal die Station verpasst.
„Ich kam wegen des Coronavirus vorzeitig zurück“, beendet der junge Mann seinen Bericht. Einen anderen Grund, sich aus dem Arbeitsverhältnis zu befreien, hatte er offensichtlich nicht.

Den hatte allerdings ein Mann mittleren Alters, der in einer roten Trainingsjacke zur Versammlung erschienen ist. Er arbeitete von 1999 bis 2006 auswärts, zuerst auch in Kerala, danach in Hyderabad in einer Baumwollspinnerei. Die Unterkunft war schlecht und er hatte kaum Zugang zu Wasser. Der Arbeitstag betrug 12 Stunden. Als der Arbeitgeber sie über die 12 Stunden hinaus arbeiten lassen wollte, kam es zum Eklat. Sie verweigerten die Mehrarbeit, der Fabrikbesitzer schloss sie daraufhin ein, sie konnten aber durch ein Fenster entkommen. Seitdem arbeiten er und die anderen hier in der Gegend des Dorfes.

Gelegentlich gibt es auch Solidarität

Auf ein ganzes Bündel sehr gemischter Erfahrungen blickt der schon etwas reifere Devapon zurück. Er war in Sikkim, Karnataka, Andhra Pradesh, Tamil Nadu, Goa und zuletzt in Kerala. Überall war er als Stahlbinder tätig. Nach 14 Jahren in Kerala will er nun nicht mehr gehen. „Die Arbeit eines Stahlbinders ist extrem hart“, so der Mittvierziger. Auch konnte er seine Familie immer nur in großen Abständen sehen, denn diese war, wie meist üblich, im Dorf geblieben. Jetzt wird er mit seiner Frau sein und sich um die Kinder kümmern. Das jüngste ist 6 Monate.
„Als outsider habe ich mich schon manchmal gefühlt“, sagt Devapon. Am besten sei es für ihn in Kerala gewesen. Hier haben er und andere Arbeitsmigranten viel Unterstützung von lokalen Leuten bekommen. „Wir schlossen uns immer jemandem an, der uns in die lokalen Gepflogenheiten einführte“. In der Fabrik in Kurnool waren die anderen Arbeiter sogar bereit, für sie zu kämpfen, wenn der Lohn nicht kam. Insgesamt sei das aber, wie Papon betont, eher eine seltene Erfahrung gewesen.
 

Um den Lohn betrogen

Richtig geprellt um seinen Lohn wurde ein etwas jüngerer Mann, der über einen Vermittler einen Job in einer Ölraffinerie in Andhra Pradesh fand. Davor hatte er in einer Eisfabrik gearbeitet. Erst kürzlich ist er zurückgekommen. Seine Unterkunft war 10 km vom Arbeitsplatz entfernt, der Transport oft schwierig. Denn der Bus der Firma hat nur örtliche Leute mitgenommen. Die Unterkunft war 30 Quadratmeter, 15 Leute mussten sich diese Fläche teilen.
„Die Vermittler sind dann einfach mit dem Geld abgehauen, das mir zustand. Einmal musste ich 5 Tage am Stück gänzlich ohne Geld auskommen.“

Bei dem ebenfalls jüngeren Surbhui war es der fehlende Gesundheitsschutz, der ihn seine Arbeit in einer Stahlfabrik in Andhra Pradesh abbrechen ließ. In seiner Halle wurde Erz zerkleinert und weiterbefördert. Bei diesen Arbeitsschritten entstand viel Staub. Während Surbhuis Zeit in der Stahlfabrik gab es zwei Tote durch Staublunge. Das war für ihn ein Grund, ins Dorf zurückzukehren.

Können andere aus diesen Erfahrungen lernen?

Auf unsere Abschlussfrage, ob es an der Migration nicht auch etwas Gutes gäbe, antworten die Männer sehr zurückhaltend. „Das einzig Gute ist, dass man, wenn man migriert, überhaupt Arbeit hat. Hier im Dorf haben wir keine.“
Werden die Männer also mit dem weitermachen, was sie anfangs geschildert haben: migrieren, leidvolle Erfahrungen sammeln und ihren Nächsten einfach nichts davon sagen?
„Eigentlich sollten wir darüber berichten“, findet zumindest der Mitvierziger, der sich als alter Hase in Sachen Migration vorgestellt hat. „Denn aus unseren Erfahrungen könnten viele andere lernen.“

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