Wahlen in Brasilien

Mit Lula für ein Ende der Politik des Todes?

Bei der im Oktober anstehenden Präsidentschaftswahl geht es um viel. Weder Brasiliens verarmte Bevölkerungsgruppen noch die amazonischen Wälder dürften eine weitere Amtszeit Bolsonaros verkraften, der bereits in knappen vier Jahren mit einem Kahlschlag bei den Sozialprogrammen, der Aushebelung des Schutzes von indigenen Territorien und Aufrufen zur Gewalt gegen politische Gegnerinnen massiven Schaden angerichtet hat.

Bolsonaro hat den Hunger zurückgeholt

Die Hoffnungen der Zivilgesellschaft, einschließlich der ASW-Partner:innen, richten sich daher auf den Kandidaten der Arbeitspartei (PT) Luiz Inácio Lula da Silva. Nicht weil, sondern obwohl er Brasilien von 2003 bis 2011 schon einmal regierte. Seine Amtszeit steht zwar auch für neue Sozialprogramme zugunsten der Armen, er wird aber für die Fortschreibung eines auf Rohstoffausbeutung setzenden Entwicklungswegs kritisiert. Erst jüngst bekundete er, die Pläne für einige Staudämme am Tapajósfluss wieder aktivieren zu wollen.
Lula ist daher für unsere brasilianischen Partner nicht der Traumkandidat, sondern die einzige Chance, den Alptraum  Bolsonaro zu beenden.

Gegnern aus dem rechten Lager gelang es vor einigen Jahren, ihn wegen angeblicher Verwicklung in einen Korruptionsskandal vor Gericht zu bringen. Doch Ende 2019 wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Wegen parteiischer Ermittlungen wurden die laufenden Prozesse gegen ihn gestoppt.

Brasilien ist tief gespalten

Jetzt läuft alles auf ein Duell zwischen Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (Lula) und dem Amtsinhaber Jair Bolsonaro hinaus, kein:e Kandidat:in dazwischen hat Aussicht auf einen Stimmenanteil von mehr als 10 Prozent. Dabei hat Lula gute Chancen, Bolsonaro zu schlagen.

Etwa 45 Prozent der Brasilianer:innen würden ihn aktuell wählen – und erstaunliche 35 Prozent den Noch-Präsidenten, denn die Bilanz seiner Regierungszeit ist nicht für alle schlecht. Das Agrobusiness und andere Teile der wirtschaftlichen Eliten bis hin ins illegale Milieu haben von der Aufweichung von Schutzgesetzen, der finanziellen Austrocknung von Behörden und dem grünen Licht für eine wirtschaftliche Ausbeutung Amazoniens profitiert. Dazu kommt Bolsonaros Wählerbasis bei den mitgliederstarken evangelikalen Gemeinden.

Politik des Todes als Kern eines Entwicklungsprojektes

Durch die sukzessive Schwächung staatlicher Strukturen hat nicht nur das Agro- und Rohstoffbusiness jegliche Hemmungen gegenüber der gewaltförmigen Durchsetzung seiner Interessen verloren, auch das direkt kriminelle Milieu hat zugelegt.
Der Spezialist für grenzüberschreitende Kriminalität an der Universität Pará, Aiala Colares, dignostiziert für manche Regionen eine „kriminelle Regierungsführung“. In Manaus zum Beispiel, der Hauptstadt Amazoniens, verfügen kriminelle Gruppen bereits über die Kapazität, zu regieren. Sie generieren z.B. über Bergbau oder Holzraub in indigenen Gebieten in großem Umfang Ressourcen – bis sie dem „Nationalstaat die Legalisierung illegaler Aktivitäten auferlegen“.

Das Amazonasgebiet ist heute für Aktivisten aus sozialen und Umweltbewegungen und auch für Journalisten das gefährlichste Gebiet der Welt, sagt Colares. Die jüngsten Morde an Bruno Araújo Pereira, dem von Bolsonaro 2019 abgesetzten Mitarbeiter der Indigenenschutzbehörde FUNAI, und dem britischen Journalisten Dom Phillips Anfang Juli 2022 seien nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich würde jede Woche ein neuer Führer der indigenen und der Quilombola-Bewegung bedroht und ermordet.

Brasilianische Partnerorganisationen der ASW bezeugen diese Lage seit Jahren. Unsere Aktivistinnen in Amazonien wurden zuletzt häufig durch Auftragskiller aus dem Umfeld des Goldbusiness bedroht.
Allein im Gebiet der indigenen Munduruku am Tapajós-Fluß sind 442 illegale Abbaugebiete identifiziert worden. Gegen die kämpft zum Beispiel Alessandra Munduruku, die wegen ihrer Rolle als Anführerin des indigenen Widerstandes bereits zahlreiche Morddrohungen erhielt und die immer wieder untertauchen muss. Sogar ein Kopfgeld wurde auf sie ausgesetzt.

Die illegale Goldgräber:innen fühlen sich von Bolsonaros Bundesregierung ebenso vertreten wie Holzräuber und die Agrarindustrie, und das Fehlen staatlicher Institutionen, so resümiert der Geograph Colares, habe diese Gruppen noch mehr gestärkt. „Es ist ein echtes Entwicklungsprojekt, das in der Politik des Todes ein zentrales Element hat.“

Was könnte Lula tun?

 „Man kann sagen, dass jede Regierung, die nach Januar 2023 ihr Amt antritt, es schwer haben wird, dieses Problem zu lösen, auch mittel- und langfristig, weil diese Konflikte bereits in organisierter und effektiver Form vorhanden sind“, lautet die ernüchternde Einschätzung von Colares. Man brauche Vereinbarungen und müsse Kapazitäten bei den traditionellen Bevölkerungsgruppen aufbauen, all dies werde nicht über Nacht geschehen.

Etwas optimistischer äußert sich der ehemalige Mitarbeiter der brasilianischen Umweltbehörde IBAMA, Hugo Loss. Der erfolgreiche Umweltfahnder hatte, bevor er von Bolsonaro kaltgestellt wurde, Massenfestnahmen, die Zerstörung von Baggern und Hubschraubern und Bombenabwürfe auf versteckte Flugpisten der Banden veranlasst. Im Interview mit der ZEIT hatte Loss im Juni 2022 erklärt, die Zerstörung des Amazonaswaldes in den Schutzgebieten ließe sich auf null bringen, wenn der politische Wille da wäre und wieder ausreichend Mittel an die Behörde flössen.

Offensichtlich hat Lula bereits zugesichert, die Integrität indigener Gebiet zu sichern und sogar die Schaffung eines Ministeriums für indigene Angelegenheiten versprochen. „Deswegen wird die Mehrheit der Indigenen Lula wählen“, ist sich Brasilienexperte und Mitglied des ASW-Programmausschusses Thomas Fatheuer sicher.

Dabei müssten dann mit Sicherheit auch die Führungsposten in der Indigenenbehörde FUNAI neu besetzt werden. Bolsonaro hatte im Juli 2019 den Vertreter des Agrobusiness, Marcelo Augusto Xavier da Silva, zum FUNAI-Chef gemacht und damit ein klares Signal in Richtung ökonomische Öffnung der indigenen Gebiete gesetzt.

Mehr lesen: Die Menschen in Amazonien zwischen Hoffnung und Furcht – ein Stimmungsbild von Thomas Fatheuer, Mitglied im Programmausschuss der ASW