"Laut gedacht": Warum deutsche Interessen nicht alles sind

 

– von Solidarität und Eigennutz in schwierigen Zeiten

Am 24.06. legte die Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD ihren Haushaltsentwurf vor. Dieser sieht eine drastische Reduzierung der Mittel vor: 53% bei der Humanitären Hilfe (HH) und knapp 9% bei der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Gerade in Zeiten zunehmender globaler Krisen, politischer Umbrüche und gesellschaftlicher Unsicherheiten bedeutet dieser Haushalt weitere gravierende Einschnitte für die EZ und HH in Deutschland. Besonders problematisch sind diese Kürzungen, weil weltweit der Bedarf an HH und EZ durch Konflikte, Klimakatastrophen und wirtschaftliche Instabilität stetig wächst – gerade jetzt wären stabile und verlässliche Mittelzusagen wichtiger denn je. Damit folgt Deutschland dem Beispiel Frankreichs, der Niederlande, Englands und der USA: Aufgrund der Mittelkürzungen mussten zahlreiche Hilfsprojekte eingestellt werden, internationale Verpflichtungen konnten nicht erfüllt werden und jahrzehntelang aufgebaute Strukturen brechen weg. Das hat das Vertrauen in die EZ nachhaltig erschüttert.

Anders als noch vor der Wahl befürchtet, behielt die neue Regierung zwar das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bei. Die drastischen Kürzungen sowie das geplante Abschwächen des Lieferkettengesetzes werfen jedoch grundsätzliche Fragen auf, wie ernst es die aktuelle Regierung mit der internationalen Verantwortung meint.

Solidarität unter Druck

Die aktuelle Krise der EZ und HH ist das Ergebnis eines grundlegenden Stimmungswandels: Die Solidarität mit dem Globalen Süden und mit Krisenregionen gerät zunehmend unter Druck. Was früher als gemeinsame Verantwortung galt, wird heute zunehmend infrage gestellt. Während der Diskurs der EZ und HH früher vorwiegend von moralischen Prinzipien geleitet war, setzt sich nun das Primat des Eigeninteresses durch. Es häufen sich die Forderungen EZ müsse vor allem „Deutschland nutzen“. Verträge und Abkommen ersetzen Menschlichkeit; Solidarität wird zur Verhandlungsmasse und nur noch selektiv gewährt – ausgerichtet am eigenen Vorteil. Vor diesem Hintergrund mutet es inzwischen zynisch an, noch von „westlichen Werten“ zu sprechen.

Lange Zeit wurde zumindest der Anschein staatlicher Solidarität gewahrt: Versprechen wurden gemacht, Mittel bereitgestellt – auch wenn sich an den strukturellen Problemen oft wenig änderte. Die EZ nahm diese Mittel dankbar an, erreichte damit auch viel Gutes, und spielte deshalb die Rolle der „Charity Lady“ des globalen Spätkapitalismus mit.

Doch befinden sich EZ und HH aber nicht von vornherein in einer „Lose-lose-Situation“, solange ihre Arbeit von der internationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik der reichen Geberländer konterkariert wird? Erfolge sind allzu oft nur vorübergehender Natur, wenn sich nichts an den ungerechten globalen Strukturen, die von ganz anderen Akteuren geschaffen werden, ändert: multinationale Unternehmen, internationale Investmentfonds, „Steueroasen“ etc., die nach ihren eigenen Regeln spielen.

Vor diesem Hintergrund wirken EZ und HH trotz aller erreichten Verbesserungen wie der sprichwörtliche „Tropfen auf dem heißen Stein“. Und nicht ganz überraschend wird die angebliche „Sinnlosigkeit“ der EZ und HH von rechter und konservativer Seite ihr selber angelastet. Damit lässt sich der Blick ideal von den eigentlichen Ursachen von Armut, Hunger und Klimawandel sowie Deutschlands Verantwortung ablenken: etwa von ungerechten globalen Wirtschaftsstrukturen, den bis heute anhaltenden Auswirkungen des Kolonialismus oder der fortschreitenden, vom Menschen verursachten Umweltzerstörung.

Jetzt, da das aktuelle Wirtschaftssystem zunehmend an seine physikalischen, politischen und demokratischen Grenzen stößt und die Klimakatastrophe unaufhaltsam erscheint, wird immer deutlicher, dass der Gedanke einer globalen Verantwortung praktisch aufgegeben wurde. Der Haushaltsentwurf der aktuellen Koalition steht in dieser Entwicklung – geprägt von fünf Jahrzehnten Neoliberalismus – eher für Kontinuität als für Wandel.

Eigennutz vs. globale Gerechtigkeit

Heute wird von der EZ zunehmend verlangt, zu zeigen, was sie „für Deutschland“ bringt – und wer noch an globale Gerechtigkeit und solidarische Verantwortung erinnert, gilt schnell als „nicht mehr zeitgemäß“. Dabei wäre genau jetzt die Zeit, sich dem entgegenzustellen. Denn wenn der Diskurs von jenen bestimmt wird, die Solidarität als Schwäche begreifen, verlieren wir weit mehr als nur Fördermittel: Wir verlieren unseren Kompass.

Die kommenden Jahre werden entscheidend sein. Sicher ist: Auf den Staat allein wird sich die Zivilgesellschaft nicht verlassen können. Die EZ muss ihre Kraft aus sich selbst schöpfen und aus den Menschen, die sich nicht entmutigen lassen. Menschen, die den Gedanken der Solidarität mit Leben füllen und sich nicht dem Trend der Abschottung beugen.

Seit vielen Jahren sind die ASW und viele andere Organisationen darum bemüht, den Menschen in Deutschland zu zeigen, dass dank ihrer Hilfe reale und dauerhafte Verbesserungen im Leben ganzer Gemeinschaften möglich sind. Wir müssen deshalb alles daran setzen, zu zeigen, welchen positiven Einfluss unsere Partner im sogenannten „Globalen Süden“ in ihrem Umfeld haben, und was erreicht werden kann, wenn Zusammenhalt und Engagement im Vordergrund stehen. Dies gilt auch für die Herausforderungen, die hier in Deutschland unser Leben bestimmen.

In diesen schwierigen Zeiten sollten wir allen Menschen umso dankbarer sein, die es trotz eigener Sorgen und Probleme als wichtig erachten, sich solidarisch mit denen zu zeigen, die drohen, in diesen Zeiten vergessen zu werden. Denn Solidarität ist kein Schimpfwort, sondern der Ausdruck gelebter Menschlichkeit.

 

Meinungsartikel* von Christophe Mailliet

*Als Meinungsartikel gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der gesamten ASW wieder.