Biodiversität, Klima und Mensch – Zeit für ein Umdenken

Die Beschäftigung mit dem Thema der Biodiversität ist unerlässlich: Aus einem wissenschaftlichen Interesse, aufgrund der dem Menschen laut dem berühmten Biologen Edward O. Wilson innewohnenden „Liebe zum Leben“ („Biophilie“), aber auch aus vielen weiteren Perspektiven.

Den Begriff der Biodiversität gibt es erst seit Mitte der 1980er Jahre. Er bezeichnet im öffentlichen Diskurs sowohl die sogenannte Artenvielfalt (die wissenschaftlich nur sehr ungenügend erfasst ist – Schätzungen der Gesamtanzahl aller Arten variieren stark) als auch im weitesten Sinne „die Natur“, die aus einer Vielzahl von Ökosystemen besteht. Weiterhin beinhaltet er verschiedene Unterkonzepte (genetische Diversität, Ökosystem-Diversität, etc.), die eine bestimmte Facette konkreter beleuchten. Eine einheitliche Definition gibt es nicht, und es ist nie ganz klar, welche in welchem Zusammenhang genutzt wird. Es besteht hier eine große Ähnlichkeit mit dem Begriff der „Nachhaltigkeit“, der ebenfalls nur schwammig definiert ist und letzten Endes seine Bedeutung aus dem jeweiligen Kontext bezieht.

Um dem Diskurs rund um Biodiversität eine Grundlage und analytische Schärfe zu geben, wird folgende Definition vorgeschlagen: Biodiversität ist eine Eigenschaft von Ökosystemen, die die Vielfalt innerhalb dieser Ökosysteme beschreibt. Also von den Mikroorganismen wie Viren, Bakterien, Einzellern etc., hin zu Pilzen und Pflanzen, um über die Wirbeltiere schließlich ans Ende der Nahrungskette zu gelangen – wozu man letzten Endes auch den Menschen zählen muss. Die Beschreibung der Vielfalt aller dieser Lebensformen innerhalb eines Ökosystems kann aber nur dann vollständig und sinnvoll sein, wenn auch Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und äußere Faktoren (wie zum Beispiel ein sich veränderndes Klima oder ein durch Ressourcen-Abbau verschwindendes Biotop) mit erfasst werden.

Dass die Biodiversität  durch den Einfluss des Menschen und das sich (in „Erdzeit“) rasant verändernde Klima  in einem Ausmaß bedroht wird, wie sie es seit dem Verschwinden der Dinosaurier nicht mehr wurde, machen wenige Zahlen klar. Inzwischen geht man davon aus, dass in den letzten 150 Jahren ca. 77% der Landmasse (die Antarktis ausgenommen) und 87% der Weltmeere durch menschliche Aktivitäten verändert wurden. Dies ging einher mit einem sogenannten Biomasse-Verlust von ca. 83% aller wilden Säugetiere und einem Verlust von ca. der Hälfte der Pflanzen. Nutztiere und Menschen repräsentieren heute fast 96% aller lebenden Säugetiere.
Mehr Spezies als jemals zuvor sind durch direkte menschliche Einwirkung vom Aussterben bedroht. Dazu gehören beispielsweise ca. 1/3 aller Süßwasser-Fische. Auch die Bestände von sogenannten „Megafischen“ – also der Arten, die für die Ernährung von hunderten Millionen Menschen von essentieller Bedeutung sind – sind um 94% zusammengebrochen. Jedes Jahr verschwinden hunderte Arten für immer, nachzulesen auf der sogenannten „Roten Liste“ der IUCN. Und seit Ende 2020 existieren auf der Erde mehr vom Menschen hergestellte Dinge (vom Nagel bis zum Wolkenkratzer) als Pflanzen, Tiere und andere Lebewesen.

Wieso ist Biodiversität wichtig?

Wie viele Arten von Schmetterlingen (Vögeln, Fischen, Würmern…) „braucht man“? Weiß man überhaupt, wie viele Arten es gibt? Welche Rolle spielt es, wie viele es sind, solange die „wichtigen“ überleben? Und ist es nicht egal, wie viele Arten von Wespen in Deutschland leben? Denn Wespen „sehen alle gleich aus“, sind eh „nervig“ und erfüllen für den Menschen keinen sofort erkennbaren „Zweck“, oder?
Wenn man anfängt, sich mit der Bedeutung von Biodiversität zu beschäftigen, landet man relativ schnell bei solchen Fragen. Diese werden gerne von den Gegner*innen von „zu viel Naturschutz“ gestellt, wenn „wieder einmal“ ein neuer Autobahnabschnitt nicht gebaut werden kann, weil an der vorgesehenen Strecke eines der letzten Habitate einer seltenen Echse, Fledermaus oder Orchidee liegt.
Solchen Fragen liegt ein extrem reduziertes Verständnis von Biodiversität zugrunde, das Lebewesen in grobe Kategorien unterteilt und diese ausschließlich nach ihrem direkten Nutzen aus Sicht des Menschen bewertet – und für „erhaltenswert“ deklariert oder nicht. Diese sogenannten „Ökosystem-Dienstleistungen“ sind ohne Zweifel essentiell, doch es gibt weitere Aspekte, die nicht minder wichtig sind.

Ökonomisch betrachtet, trägt Biodiversität zur Verfügbarkeit von vielfältigen Lebensmitteln, Rohstoffen für Industrie und Handel, Medikamenten und Heilmitteln, Baumaterialien und Gebrauchsgegenständen bei. Sie bildet die Basis für Landwirtschaft, indem nicht nur zahlreiche Arten von Tieren und Pflanzen wirtschaftlich genutzt werden, sondern auch neue Rassen und Sorten über Generationen durch Auslese und Einkreuzungen (bspw. von wilden Varietäten einer Nutzpflanze) von Bäuer*innen entwickelt werden. Inzwischen sind allerdings diese uralten Techniken durch Bio- und Gentechnologien ergänzt worden, die die Gefahr bergen, mit ihren im Labor kreierten Sorten alte Pflanzenvarietäten oder die Wildformen und damit deren Genpool zu verdrängen.

Schlussendlich baut ein wichtiger Teil des Tourismus-Sektors auf intakte Landschaften und die Möglichkeit, verschiedene Tier- und Pflanzenarten in ihrer natürlichen Umgebung beobachten zu können.

Ökologisch betrachtet, ist die Biodiversität die Basis für die natürlichen Evolutionsprozesse des Lebens. Sie spielt eine essentielle Rolle bei der Regulierung der physikalischen und chemischen Zyklen der Biosphäre, insbesondere was die Produktion und Speicherung von Sauerstoff bzw. Kohlenstoff durch die Photosynthese betrifft. Mikro-Organismen, Pilze, Pflanzen, Insekten, Würmer etc. sind für die Fruchtbarkeit der Böden und den Süßwasserkreislauf extrem wichtig, und spielen eine wichtige Rolle beim Abbau und der Verwertung von organischen und mineralischen Abfallprodukten, so wie bspw. nitrifizierende Bakterien bei der Gewinnung von Trinkwasser. In diesem Sinn ist jede Art von Lebewesen, die ausstirbt, ein unwiederbringlicher Verlust, denn mit ihr verschwindet auch ein Baustein in einem funktionierenden Ökosystem, das dann irgendwann kollabiert.

Ethisch betrachtet, steht die Menschheit einerseits vor der moralischen Verpflichtung, andere Lebensformen nicht zu zerstören und ist andererseits gegenüber nachfolgenden Generationen  dazu verpflichtet, intakte Lebensgrundlagen zu hinterlassen. Immer mehr Menschen erkennen auch zunehmend den inneren Wert von Biodiversität und intakten Lebensräumen, die nicht nur durch ihre überwältigende Schönheit ästhetisch berühren, sondern auch auf einer emotionellen und spirituellen Ebene mit Werten wie Harmonie, Natürlichkeit, Liebe zum Leben, Fürsorge etc. in Verbindung gebracht werden. Zum Beispiel in einer Hinwendung oder Rückbesinnung zu „Mutter Erde“ (siehe S. 26 in diesem Heft). Es ist aber noch ein langer Weg, bis sich dies in konkretem Handeln und einem echten Wandel widerspiegelt.

In diesem Sinne ist die Beschäftigung mit dem Erhalt der Biodiversität eine Aufgabe, die sowohl für verschiedene Bereiche der Gesellschaft von essentieller Bedeutung ist, als auch für jede*n einzelne*n von uns auf individueller Ebene.

Und endlich wird auch im politischen und wissenschaftlichen Diskurs die unmittelbare Verknüpfung dieses Themas mit der Bekämpfung des Klimawandels und der menschlichen Entwicklung – insbesondere bezüglich der Ernährungssicherheit – anerkannt. Dies wirft einerseits neue Fragestellungen auf, unterstreicht aber auch die Notwendigkeit von ganzheitlichen Lösungen in diesen Bereichen.

Erhalt der Biodiversität, Bekämpfung des Klimawandels und Ernährung: Wie kann alles gleichzeitig funktionieren?

Auch wenn es schon seit mehreren Jahren internationale Bemühungen gibt, sowohl den Klimawandel (im Rahmen der UN Framework Convention on Climate Change, und gesteuert durch den Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) als auch den Verlust der Biodiversität (im Rahmen der Convention on Biological Diversity, und gesteuert durch die Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, IPBES) zu bekämpfen, wurden die vorgeschlagenen Maßnahmen bisher weitgehend unabhängig voneinander entwickelt. Es herrscht aber darüber Konsens, dass die Wechselwirkungen zwischen beiden Phänomenen einen wesentlichen Einfluss darauf haben, ob solche Maßnahmen erfolgreich sind oder nicht, bzw. ob sie nicht sogar kontraproduktiv sein könnten. Hinzu kommt, dass die Auswirkungen auf soziale Systeme und wesentliche Aufgaben wie die Ernährung der Menschheit oftmals nur ungenügend mit berücksichtigt werden. Dies ist insbesondere bei Fragen der Landnutzung der Fall, wo immer mehr Flächen der industriellen Landwirtschaft weichen müssen – mit katastrophalen Folgen für Biodiversität und Klima, aber auch für die Ernährungssicherheit der globalen Bevölkerung.

Es ist auch unbestritten, dass der Klimawandel die Risiken für die Biodiversität sowie für natürliche und bewirtschaftete Ökosysteme verstärkt. Gleichzeitig spielen diese Ökosysteme und eine intakte Biodiversität eine Schlüsselrolle im Emissionen-Kreislauf und in möglichen Anpassungsstrategien an den Klimawandel. Ca. 50% aller vom Menschen verursachten CO2-Emissionen werden aktuell durch Photosynthese und Kohlenstoffspeicherung in der Biomasse sowie durch Absorption in den Weltmeeren (was allerdings zur Versauerung der Ozeane beiträgt) der Atmosphäre entzogen. Jede weitere Zerstörung von Ökosystemen und der darin enthaltenen Biomasse trägt also zu einem beschleunigten Klimawandel bei.

Biodiversität und Klima eng verschränkt: IPCC und IPES tagen zusammen

Ende 2020 hielten IPCC und IPBES zum ersten Mal einen umfangreichen gemeinsamen (Online)-Workshop ab, der versuchte, nicht nur mögliche Lösungen und Fallstricke dieser beiden Krisen zusammen herauszuarbeiten, sondern auch die benötigten Anstrengungen zu beschreiben, die in Wirtschaft, Technologie, (Umwelt-)Politik, Gesellschaft, etc. nötig sind. Das wesentliche Ergebnis ist, dass vermeintliche Zielkonflikte zwischen Klimawandel-Bekämpfung, Erhalt der Biodiversität, und menschlicher Entwicklung auflösbar sind, auf der Basis einiger wesentlicher Erkenntnisse:

  • Die Begrenzung des Anstieges der globalen Temperaturen und der Schutz der Biodiversität sind sich ergänzende und gegenseitig verstärkende Ziele. Nur wenn sie zusammen erreicht werden, können wir einen bewohnbaren Planeten erhalten und nachhaltige und gerechte Lebensgrundlagen für die Menschheit schaffen;
  • Viele Maßnahmen zum Schutz und zur Wiederherstellung von Ökosystemen auf dem Land und in den Meeren tragen auch direkt zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels und des Verlustes von Biodiversität bei;
  • Maßnahmen, die sich zu eng auf die Anpassung an, bzw. Bekämpfung der Folgen des Klimawandels fokussieren (wie bspw. technologische CO2-Speicherung, Monokultur-Aufforstung, etc.) können negative Folgen auf die Natur und deren Dienstleistungen für den Menschen haben;
  • Maßnahmen, die primär auf den Erhalt der Biodiversität fokussiert sind, haben in der Regel auch positive Effekte auf das Klima. Diese Effekte könnten aber noch größer sein, wenn solche Maßnahmen die Bekämpfung des Klimawandels und die Bedürfnisse der Menschen gleich mitdenken;
  • Die Biodiversität, das Klima und die menschliche Gesellschaft müssen als miteinander gekoppelte Systeme betrachtet werden, wenn Maßnahmen zu deren Erhalt und Entwicklung erfolgreich sein sollen; und
  • Nur durch tiefgreifende Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft kann eine nachhaltige und stabile Zukunft geschaffen werden.

Im verfügbaren, sehr lesenswerten Resümee dieses Workshops sind zahlreiche Fakten und Lösungswege beschrieben*, die zumindest ein wenig Hoffnung machen, dass sich eine ganzheitliche Sicht auf diese Probleme durchsetzt. Gleichzeitig wird aber auch noch einmal deutlich, dass in vielen Bereichen schon längst hätte gehandelt werden müssen, beispielsweise in der Energie- und in der Lebensmittelproduktion. So werden laut einem Report der UNEP 86% aller bedrohten Arten durch die industrielle Landwirtschaft direkt gefährdet. Der von diesen Gremien geforderte Schutz von mindestens 50% der Landfläche und der Ozeane schließt aber explizit nicht eine nachhaltige Nutzung dieser Gebiete aus, wie sie schon lange durch traditionelle und indigene Gemeinschaften erfolgt. Er macht auch klar, dass der Schutz solcher Gebiete und der darin enthaltenen Biodiversität eine Aufgabe ist, die nicht an nationalen Grenzen halt machen kann und die von den betroffenen Gemeinschaften mit getragen werden muss. Ebenso wird klar, dass eine weitere Zerstörung der Natur letztlich auch ein Verbrechen an den Menschen ist, die in, von und mit dieser Natur leben.

Natur ist ein Gemeingut und Menschen sind Teil von ihr

Immer mehr Organisationen und Aktivist*innen weltweit fordern deshalb, dass der sogenannte „Ökozid“ gleichrangig mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriffskriegen und Völkermord in das sog. Römische Statut des Weltgerichtshofs aufgenommen wird. Wobei auch für „Ökozid“ verschiedenen Definitionen vorliegen – die Organisation „End Ecocide On Earth“ definiert ihn als „umfangreiche Schädigung oder Zerstörung (…) der globalen Gemeingüter oder der irdischen Ökosysteme, auf welche alle Lebewesen im Allgemeinen sowie die Menschheit im Besonderen angewiesen sind.“

Eine solche Aufwertung des Ökozids würde einen Abschied von der „westlichen“ Haltung, dass der Mensch gewissermaßen „außerhalb“ der Natur steht und sich diese „Untertan machen soll“, voraussetzen. Es müsste endlich anerkannt werden, dass wir Menschen einem Netzwerk angehören, dessen Teile sich gegenseitig und dessen Ganzes alle am Leben erhalten. Dass die Natur auf einer Ebene mit uns Menschen steht und wir mit ihr eins sind.
In Indien und in Neuseeland wurden deshalb der Natur auch schon eigene Rechte zugestanden, und in Frankreich wurde 2020 die Straftat des Ökozids eingeführt (wenn auch nur auf das nationale Territorium begrenzt). Das kann immerhin ein Anfang sein.

Von Christophe Mailliet

* Der vollständige Bericht des „IPBES-IPCC co-sponsored workshop report on biodiversity and climate change“ und der dazugehörige wissenschaftliche Bericht („Scientific Outcome“) sind online zu finden unter: https://ipbes.net/events/launch-ipbes-ipcc-co-sponsored-workshop-report-biodiversity-and-climate-change