Wir müssen aufhören, den Klimawandel zu entpolitisieren

Interview mit der Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Daniela Silva, Brasilien

Am 11. Juni sprach unser Kollege Sebastian Ritter Choquehuanca mit der Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Daniela Silva in Bonn. Die ASW-Partnerin war als Stipendiatin des Latin American Youth Climate Scholarship für die Teilnahme an der kleinen Klimakonferenz (SB58) nach Bonn gekommen. Sie ist eine DER Stimmen von Schwarzen, Indigenen und People of Colour aus Lateinamerika in der Internationalen Klimapolitik.

ASW: Daniela, du bist eine international bekannte Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin. Kannst du uns ein wenig von deinem Weg erzählen und an welchen Projekten du aktuell arbeitest?

Daniela Silva: Ich bin Daniela Silva, ich lebe in Altamira und begann schon als Teenager, mich aktivistisch zu engagieren. Ich und meine Familie waren schwer vom Staudammprojekt Belo Monte betroffen und mussten aus unserem Dorf nach Altamira ziehen. Dort begann ich in der Xingo Vivo Bewegung aktiv zu sein. Seit mehr als sieben Jahren kämpfe ich in der Bewegung für die Umwelt- und Menschenrechte der Menschen am Xingu und habe etwa das Jugendkollektiv der Bewegung mitgegründet. Mein aktuelles Projekt ist ein Umweltbildungsprogramm namens „Aldeias“. Wir haben dieses Projekt gestartet, als wir bemerkten, dass vor allem auch die Kinder und Jugendlichen sehr stark von den Auswirkungen von Belo Monte betroffen sind. Aldeias ist ein langfristig angelegtes Projekt, bei dem wir die Kinder in der Gemeinschaft eng begleiten, und Umweltbildung mit Ihnen machen. Ich zum Beispiel stamme aus einer Generation, die die Möglichkeit hatte, im Fluss und in Bächen zu spielen, eine Beziehung zur Natur zu erleben. In unserer Gemeinde gab es viele Früchte, Mangos, Maniok, Avocado, Açaí. Seitdem wir durch Belo Monte aus unserem Land vertrieben wurden, benötigen wir nun Geld, um diese Dinge zu kaufen und die junge Generation wächst weit entfernt von dieser soziokulturellen Ökologie auf. Das ist gefährlich, denn man verteidigt nur das, was man liebt, was man kennt. So gibt es heute Kinder in Altamira, die nicht einmal wissen, wie der Fluss heißt, der durch ihre Stadt fließt. Das alles sind für mich die Auswirkungen von Belo Monte. Es ist gefährlich, wenn eine Generation von Menschen heranwächst, die sich nicht mehr mit ihrem Land verbunden fühlt, dann ist es viel einfacher, für das nächste Unternehmen das kommt und ein weiteres umweltzerstörendes Projekt durchsetzen will.

ASW: Du sprichst von den schlimmen Folgen, die Belo Monte für die Menschen hatte und betonst dabei auch die sozio-ökologischen Auswirkungen dieses Projekts. Wie ist die Situation des Xingu-Kampfes heute, nach all der Zerstörung, die Belo Monte gebracht hat? Und wie geht der Kampf weiter?

Daniela Silva: Die Xingu Vivo-Bewegung kämpft  für das Recht auf eine Wiederherstellung unserer Lebensgrundlagen und dafür, neue Projekte wie Belo Monte zu verhindern. Wir konnten erreichen, dass Land, das als Entschädigung an die Vertriebenen gegeben wird, am Fluss liegen muss. So können Flussuferbewohner an das Flussufer zurückkehren, um sich ein neues Leben aufzubauen. Vor allem Frauen stehen in diesem Kampf an vorderster Front.  

ASW: Seit 2019 existiert jetzt auch das von dir mitgegründete Jugendkollektiv der Xingu Vivo Bewegung. Wie sind die Erfahrungen bisher und wie sehen hier die Pläne aus?

Daniela Silva: Genau, im Jahr 2019 haben wir das  Kollektiv namens Juventudes do Médio Xingu gegründet, mit dem Ziel auch der Stimme der Jugend Gehör zu verschaffen. Im Jahr 2019 gab es eine hohe Selbstmordrate unter jungen Menschen in der Stadt und der Region, insbesondere unter indigenen und schwarzen Jugendlichen. Als Belo Monte kam, wurden viele Jugendlichen aus ihrem Umfeld gerissen, was ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit und viele Krisen auslöste. Die Menschen wurden an Orte umgesiedelt, an denen es keine Bäume gibt und die kaum Perspektiven bieten. Was passiert, wenn man keine Zukunftsperspektive hat? Eine Person wird depressiv und krank. Das Kollektiv wurde gegründet, um sich mit dem Thema psychische Gesundheit und Zugehörigkeit junger Menschen zu befassen und das Umweltproblem kreativanzugehen. Heute sehe ich, dass Jugendlichen und jungen Menschen eine wichtige Rolle im Kampf unserer Bewegung einnehmen. Das Jugendkollektiv ist gut vernetzt, und die jungen Menschen in unserer Bewegung nehmen eine aktive Rolle bei Entscheidungsfindungen ein.

Sebastian: Was bedeutet es für dich, Stipendiatin des Latin American Youth Climate Activists zu sein?

Daniela Silva: Durch das Stipendienprogramm habe ich die Möglichkeit, mich mit Aktivist:innen aus Lateinamerika mit ähnlichen Erfahrungen zu vernetzten, und durch spezielle Trainings werden wir auch darauf vorbereitet, die Strukturen der Klimakonferenz besser nachzuvollziehen. Auch hier auf dieser Konferenz gibt es viele Barrieren und Ausschlussstrukturen. Ich konnte nur teilnehmen, da es das Förderprogramm gab. Und ich habe auch angesprochen, wie wichtig es ist, mehr für die Inklusion und Repräsentation von Schwarzen und Indigenen Menschen, auch für die sprachliche Inklusion, zu tun.

„Wir kämpfen als Umweltaktivist:innen auch für das Leben derer, die den Wald zerstören“

ASW: Du hast bereits darüber gesprochen, dass viele Teilnehmende der Konferenz nicht die kulturellen und sozialen Aspekte der Klimakrise berücksichtigen. Kannst du berichten, was du dazu auf der Konferenz beobachtet hast?

Daniela Silva: In den Diskussionen und Panels auf der Konferenz wird viel über den Wald und über das Klima gesprochen. Allerdings wird so darüber gesprochen, als ob es keine Menschen gäbe, die mit dem Wald leben, als ob es zum Beispiel in Amazonien keine Menschen gäbe. Ich erkenne, dass die Sorgen um den Schutz des Waldes und der Flüsse groß sind. Aber was ist mit denjenigen, die den Wald verteidigen? Wir sind Verteidiger der Menschen- und Umweltrechte. Wir müssen auch wertgeschätzt, respektiert und berücksichtigt werden. Unser soziokulturelles Erbe im Amazonas bedeutet, dass wir für das Kollektiv denken. Wir kämpfen als Umweltaktivist:innen auch für das Leben derer, die den Wald zerstören, es ist kein individueller Kampf.

Ich nehme jedoch wahr, dass einige Aktivist:innen aus dem Globalen Norden erst noch verstehen müssen, dass es nicht nur um den Wald geht, sondern genauso um die Menschen, die dort leben: die indigene Bevölkerung, die Ribeirinhos (traditionelle Flussanrainer-Gemeinschaften), um junge Schwarze, die in den benachteiligten Stadtteilen in den Städten im Amazonas Gebiet leben und die ebenfalls den Wald verteidigen. Und wir leiden unter dem, was man als Umweltrassismus bezeichnen kann. Wir werden im internationalen Klimadiskurs unsichtbar gemacht und ich glaube, es ist immer noch ein großer Kampf, auch international das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es uns gibt und unser kulturell tief verankertes Wissen über dieses Ökosystem relevant ist. Es braucht mehr Zugang für Indigene und von Menschen aus Gemeinschaften vor Ort, die sich in dem Gebiet auskennen, über das sie sprechen. Ich sehe viele weiße Menschen, die über Indigene sprechen. Wir müssen jedoch die indigenen Menschen zu Wort kommen lassen. Es gibt außerdem viel zu wenige schwarze Frauen als Teilnehmer:innen und auch das Thema Rassismus wird viel zu wenig besprochen.

"Die Klimakrise ist durch bestimmte wirtschaftliche Interessen verursacht"

ASW: Ich würde gerne noch über die sozialen, kulturellen und menschenrechtlichen Aspekte von Klimapolitik sprechen. Das Schwerpunktthema der ASW im kommenden Jahr ist "Klimakolonialismus". Hast du auf der Konferenz das Gefühl gehabt, dass hier koloniale Strukturen reproduziert werden in den Lösungen, die besprochen werden?

Daniela Silva: Ich verfolge beispielsweise das Thema „Loss and Damage“ und Klimawandel. In dieser Diskussion vermisse ich stark den Blick auf das umweltzerstörende Handeln von großen Unternehmen. Fast immer geht es um eine technokratischen Perspektive eines Naturereignisses, so als sei der Klimawandel und Umweltzerstörung nicht menschengemacht und als seien nicht Regierungen oder Unternehmen dafür verantwortlich. Als die brasilianische Regierung Belo Monte durchgesetzt und gebaut hat, war es eine menschengemachte und politische Handlung, die die Zerstörung der Natur bewirkte und die Menschen- und Umweltrechte hier stark verletzte. Es wirkt aber auf mich so, als ob diese Perspektive, die Akteure zur Verantwortung zieht, für viele Teilnehmer:innen auf dieser Konferenz nicht erwünscht ist. Wir müssen jedoch aufhören, den Klimawandel und Umweltzerstörung zu entpolitisieren und müssen politische Verantwortungen aufzeigen. Die Klimakrise und Zerstörung des Amazonas Regenwaldes ist durch das Handeln von Menschen und bestimmte wirtschaftliche Interessen verursacht

ASW: Ihr habt erzählt, dass ihr zum Beispiel auch im Austausch mit anderen Aktivist:innen aus dem Globalen Süden wart. Wie war der Austausch zwischen den Teilnehmer:innen, die an dem Programm teilgenommen haben?

Daniela Silva: Der Austausch war für uns wirklich fruchtbar und gut. Mit unseren Mitstreiter:innen beispielsweise aus Mexiko und Kolumbien konnten wir feststellen, dass die Gewalt- und die Unterdrückungsstrukturen sich ähneln. Wir sind durch diesen Kampf miteinander verbunden, nicht wahr? Ich denke, dass diese Erfahrung für uns wichtig war, um gemeinsam und voneinander Strategien für den Aktivismus zu lernen. Und wir stärken uns dabei gegenseitig als marginalisierte Stimmen aus Lateinamerika.

ASW: Kannst du noch mehr sagen zur Rolle der Frauen, besonders der indigenen Frauen, im Umweltkampf?

Daniela Silva: Die Rolle der Frauen im sozio-ökologischen Kampf ist bemerkenswert. In Altamira zum Beispiel kann man sehen, dass die Mehrheit der Leute, die an vorderster Front im Kampf ist, Frauen sind und in deren Erbe sehe ich mich nun auch. Ich denke, dass viele der Errungenschaften, die wir in unserer Region, in Altamira, in der Region der Transamazonica und des Xingu, hatten, auf die Beharrlichkeit, den Widerstand und die Führungsrolle der Frauen zurückzuführen sind. Wenn wir heute in der Region einige Rechte erkämpfen konnten, dann deshalb, weil die Frauen ihre Stimme dafür erhoben haben, dass die Regierungen und die Unternehmen unsere Rechte anerkennen mussten.
Und ich spüre auch etwas von mir selbst. Wenn die Umwelt zerstört wird, dann habe ich das Gefühl, dass ich das wahrnehme und spüre. Wenn ein Staudamm gebaut wird, dann diskutieren wir viel, wir denken sehr viel über die Zukunft unserer Kinder nach. Ich habe zum Beispiel eine Tochter und ich denke sehr viel an sie. Deshalb kämpfe ich auch für sie, weil ich möchte, dass sie in einer gesünderen Umwelt aufwächst.

Das Interview führte Sebastian Ritter Choquehuanca am 11. Juni 2023 in Bonn

Die ASW finanziert die Arbeit ihrer Partner im globalen Süden zum überwiegenden Teil durch Spenden. Wenn Sie die Projekte unser Partner und Partnerinnen sowie die Arbeit der ASW unterstützen möchten, klicken sie hier: