Buen Vivir - Gutes Leben

Ein Konzept aus den Anden für ein gemeinwohlorientiertes Miteinander


1972 veröffentlichte der „Club of Rome“ seine Studie „Die Grenzen des Wachstums“ über die ökologische Belastbarkeit unseres Planeten, 1973 putschte General Pinochet gegen die demokratische sozialistische Regierung in Chile, was allgemeinhin als Startschuss für das neoliberale Narrativ des grenzenlosen kapitalistischen Wachstums betrachtet wird. Heute, 50 Jahre später, ist das ökologische Gleichgewicht auf unserem Planeten bereits nachhaltig zerstört.
Von einer sozial gerechten Welt auf der Basis umfassender Menschenrechte entfernen wir uns zunehmend. Ausbeutung und Zerstörung erreichen neue Dimensionen und werden immer radikaler von den Profiteuren des Systems verteidigt. Gegen jede Vernunft.

Alternative dekoloniale Ansätze gegen die Zerstörung

Buen Vivir stammt als übergreifende Lebens- und Entwicklungsphilosophie von den indigenen Gemeinschaften der Anden und ist Resultat der dort stattgefundenen Entwicklungen, der sozialen Kämpfe und auch der Spiritualität. Das gute Leben für alle könnte eine Alternative zum aktuellen Zustand der Welt sein und sollte daher auch im Globalen Norden diskutiert werden.

Das Konzept Buen Vivir steht auf folgenden zentralen inhaltlichen Säulen: Entwicklung kann sich nur im Gleichgewicht mit der Natur vollziehen, nicht gegen sie. Wohlstand ist nicht auf materiellen Konsum zu reduzieren, sondern sieht das Individuum als Teil der Gemeinschaft, in der Werte wie Wissen, soziale und kulturelle Anerkennung oder Ethik von zentraler Bedeutung sind. Das gute Leben ist keine individuelle Frage, sondern immer eingebunden in kollektive Prozesse des Gemeinschaftslebens. Die Vielfalt der Natur und der in verschiedenen Regionen lebenden  menschlichen Gemeinschaften ist konstituierend für jede Gesellschaft.

Statt individueller Konsumversprechen Glück in Gemeinschaft leben

Glück wird als Gemeinschaftszustand verstanden, im Unterschied zur Glücksdefinition als individualisiertes Konsumversprechen der westlichen Welt. Buen Vivir steht mehr in Bezug zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten, während die kapitalistische Sicht auf die Menschenrechte der ersten Generation fokussiert, nämlich auf die persönlichen Freiheitsrechte. Buen Vivir unterscheidet sich auch von den klassischen sozialistischen Grundannahmen einer befreiten Gesellschaft, die zwar die Produktionsmittel verkollektivieren möchte, Entwicklung aber nicht an der Frage von Wachstum und den Grenzen der Ausbeutung  der Natur in Frage stellt.

Buen Vivir ist somit eine klare Absage an den westlich-kapitalistischen Entwicklungsweg, aber auch an sozialistische Gegenmodelle.  Es dreht die Idee, wer wen zu entwickeln hat, um: Das Problem für eine lebenswerte Ausgestaltung der Zukunft auf der Erde sind nicht die sogenannten unterentwickelten Länder, sondern die „hochentwickelten“ Länder des Nordens.
 

Der kurze Sommer des Buen vivir?

Die Hochzeit der Diskussion und Rezeption des „Guten Lebens für alle“ liegt inzwischen über 10 Jahre zurück, als die Leitgedanken des Buen Vivir in die Verfassungen von Ecuador und Bolivien durch die damaligen linken Regierungen übernommen wurden. Der spätere Versuch in Chile, die neoliberale Verfassung zu erneuern und darin viele Leitideen des Buen Vivir einzuflechten, scheiterte 2021 ziemlich krachend mit einer klaren Ablehnung des von der linken Regierung unter Beteiligung zahlreicher sozialer Bewegungen ausgearbeiteten Verfassungsentwurfes.

Ein zentraler Teil des Umsetzungsprozesses in Ecuador war die Yasuni-Initiative. Für den Verzicht auf die Förderung riesiger Ölmengen im Yasuni-Nationalpark – ein bis dahin nahezu unberührtes, von indigenen Gemeinschaften bewohntes Regenwaldgebiet – sollte ein internationaler Entschädigungsfonds eingerichtet werden. Diese Initiative wurde von den reichen Gebernationen einschließlich Deutschland nicht unterstützt.

Es hätte ein wichtiger Wendepunkt der internationalen Klimapolitik sein können, doch die Macht der fossilen Lobby war 2014 genauso groß wie heute. Der Widerstand gegen die Ausbeutung des Yasuni wurde von indigenen Gemeinschaften und anderen sozialen Bewegungen am Leben gehalten. Dieser lange Atem hat sich nun ausgezahlt: In einer im August 2023 durchgeführten Volksabstimmung votierte eine klare Mehrheit der Ecuadorianer:innen dafür, das Öl im Yasuni- Nationalpark nicht zu fördern – trotz einer gravierenden Wirtschaftskrise, die weit verbreitete Armut und Perspektivlosigkeit nach sich zieht. In einem zweiten Referendum sprach sich zudem eine deutliche Mehrheit gegen Bergbauprojekte in einer anderen Region des Landes aus.


Buen Vivir lebt in vielen Basisprojekten im globalen Süden

Jenseits dieser Entwicklungen in Ecuador lässt sich feststellen, dass die Grundideen des Buen Vivir in vielen Initiativen weltweit gelebt und erkämpft werden. Überall auf der Welt gab und  gibt es Kämpfe gegen großindustrielle Bergbau- oder Energieprojekte. Im Kontext der ASW-Arbeit zum Beispiel: der Widerstand der Dongria Kondh gegen den Aluminiumabbau an ihrem heiligen Berg in Odisha, Indien, die Kämpfe um indigene Territorien und gegen umweltzerstörende Großprojekte in Brasilien, gegen zerstörerische Minenprojekte in Burkina Faso oder aktuell gegen die Gasförderung im Senegal.

Alternative Entwicklungsmöglichkeiten für benachteiligte Gemeinschaften zu finden, ist für viele Basisprojekte keine ideologische Frage, sondern ergibt sich aus dem Ausgeschlossensein aus der kapitalistischen Entwicklung. Agrarökologie, der Schutz natürlicher Ressourcen wie Böden, Wälder und Wasser und kollektive Lösungsansätze, das Zusammenhalten der Gemeinschaften und ihrer kulturellen und sozialen Werte,  sind schlicht Notwendigkeiten für ein würdevolles Überleben.  Die Frauen unseres brasilianischen Partners GMB berichten uns über den direkten Einfluss des „Bem Viver“-Konzeptes auf ihre Arbeit und betonen dabei auch dessen Bedeutung für feministische Entwicklungsansätze, die allen ASW-Projekten inhärent sind.

Im globalen Süden ist das Konzept somit sehr lebendig, womit die dortigen autoritären und neoliberalen Entwicklungen nicht ausgeblendet werden sollen. Die Alternativlosigkeit der westlichen, neokolonialen Weltordnung scheint sich dem Ende zuzuneigen. Wohin diese Entwicklung führt, bleibt offen – sie bietet aber Platz für einen positiven Lösungsweg, der eine grundlegende Veränderung des menschlichen Entwicklungsweges einfordert.


Das Gute Leben für alle und der globale Norden

Wie könnte das Konzept des „Guten Lebens für alle“ zu einer neuen Perspektive im Norden führen? Hier bleibt ein großes Maß an Skepsis, da die Verteidigung von materiellen Privilegien und politischer Vorherrschaft weiterhin von breiten Kreisen der Bevölkerung getragen ist. Die Fokussierung von Freiheit als Freiheit des individuellen Konsums macht aus wachstumskritischen Forderungen einen Angriff auf die freiheitliche Lebenskultur in Europa.

Die geschürte Angst vor einem Verlust der Wohlstandsprivilegien bewegt den politischen Diskurs und die reale Politik  zunehmend nach rechts. Das scheint mir als historisches Momentum wichtig zu akzeptieren, ebenso wie die Tatsache, dass das Erstarken der politischen Rechten schon immer Teil der Verteidigung des kapitalistischen Systems in Krisen gegen antikapitalistische Bewegungen war.

Das Konzept des „Guten Lebens für alle“ kann aus meiner Sicht ein geeignetes Mittel sein, aus dieser Situation herauszuführen. Es bietet positive Ansatzpunkte, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen über die Verfasstheit unseres gesellschaftlichen Lebens und wie eine positive Zukunft ausgestaltet werden kann, in der der Reichtum unseres Planeten geschützt und gerecht verteilt wird.

Das Konzept des „Guten Lebens für alle“ wird verstanden als ständiger Prozess in Bewegung, der auf einigen gemeinsamen zentralen Grundsäulen basiert, aber regionale, kulturelle Besonderheiten aufgreift. Es ginge jetzt darum, kollektive außerparlamentarische Strukturen als Träger dieses Gegenprozesses aufzubauen und die zahlreichen bereits vorhandenen Bewegungen und Projekte international miteinander zu vernetzen. Als Utopie gedacht entsteht so eine „Internationale des Guten Lebens für alle“, die wesentlich aus der Ideenwelt und den Erfahrungen des globalen Südens gestaltet ist und dadurch die Entwicklung unserer gemeinsamen Welt in eine neue, solidarische und vernünftige Richtung führt.

Tobias Zollenkopf
 

Weiterführende Literatur und Lesetipps zu Buen Vivir:
 

"Pluriversum - Ein Lexikon des Guten Lebens für alle", HG 2023 von der AG SPAK
Freier Download: agspak.de/pluriversum/pluriversum_web.pdf oder die Printversion 2024, bestellbar bei der www.agspak-buecher.de

„Das gute Leben für alle- Wege in die solidarische Lebensweise“-  I.L.A.kollektiv,  2019
Freier Download : oekom.de/buch/das-gute-leben-fuer-alle-9783962380953

Buen Vivir- Vom Recht auf ein Gutes Leben. Alberto Acosta, oekom-Verlag, 2015

Buen vivir - Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur, Thomas Fatheuer, Heinrich-Böll-Stiftung 2011
Freier Download: boell.de/sites/default/files/Endf_Buen_Vivir.pdf

Buen VivirDas gute Leben jenseits von Entwicklung und Wachstum, von Eduardo Gudynas, Reihe «Analysen» der Rosa Luxemburg-Stiftung, 2012
Freier Download: rosalux.de/publikation/id/5621/buen-vivir/

 

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