Brasilien: Lula da Silva setzt neue Akzente


Menschenrechte, Umweltrechte und Klimaschutz werden gestärkt, sagt ASW-Partnerin im Interview

Gleich nach der Amtsübernahme hat Lula da Silva diverse Dekrete der Rechtsregierung Bolsonaros rückgängig gemacht, mit denen dieser Sozial- und Umweltrecht ausgehebelt hatte. Auch den zur Entwaldungsbekämpfung geschaffenen Amazonasfonds hat Lula reaktiviert. Im Interview spricht Letícia Tura von unserer Partnerorganisation FASE zu den Chancen der neuen Regierung und würdigt auch die Leistungen der sozialen Organisationen.

Frage: Ist die Wiederbelebung des Amazonas-Fonds eine der Maßnahmen, die gefeiert werden können?

Tura: Was Bolsonaro mit dem Amazonasfonds machte war ein Teil der umfassenden Lahmlegung der Sozial- und Umweltpolitik. Der Amazonas-Fonds selbst wurde zwar nicht aufgelöst, aber seine Steuerungsgremien. Darüber hinaus wollte Bolsonaros früherer Umweltminister Ricardo Salles den Amazonas-Fonds für seine Zwecke missbrauchen. Infolgedessen blockierten Norwegen und Deutschland die Verwendung der Mittel in Höhe von mehr als 3 Mrd. Reais und stoppten zahlreiche Projekte. Die Wiederbelebung des Amazonas-Fonds ist also ein Zeichen für den Wiederaufbau des Staates und seiner Finanzierungsinstrumente sowie für die Rückkehr zu internationalen Abkommen.

Das Umweltministerium bezieht sich nun ausdrücklich auch auf den „Klimawandel“. Welche ersten Maßnahmen der frischgebackenen Umweltministerin Marina Silva würden Sie hervorheben?

Tura: Hier ist vor allem der neue  Fokus auf die Bekämpfung der Entwaldung und die Aufwertung des Regenwaldes anzuerkennen. Dazu gehört die Wiederaufnahme des Aktionsplans zur Verhinderung und Kontrolle der Entwaldung im Amazonasgebiet (PPCDAm). Auch die Umstrukturierung des CONAMA (Nationaler Umweltrat) gehört dazu. Jetzt ist wieder die Beteiligung der Zivilgesellschaft gewährleistet, die Bolsonaro eingeschränkt hatte. Auch die Umweltbehörde (IBAMA) bekommt ihre Kompetenzen zurück und darf wieder kontrollieren, inspizieren und bei Umweltsünden Bußgelder verhängen.
 

Was ist die wichtigste Maßnahme in Richtung soziale Gerechtigkeit?

Tura: Eine der wichtigsten Maßnahmen ist die Einrichtung eines neuen Ministeriums für indigene Völker. Die indigenen Völker sind jener Teil der Gesellschaft, die der Regierung Bolsonaro am meisten Widerstand entgegensetzten und die am stärksten  angegriffen wurden. Es ist also ein einzigartiger Moment in unserer Republik. Außerdem wird das Ministerium von einer indigenen Frau, Sonia Guajajara geleitet. (Sie gehört dem Volk der Guajajara an, wo die ASW mit dem Projektpartner FAOR eine Gruppe indigener Frauen und das Jugendkollektiv Zawato unterstützt. red).
Eine weitere Errungenschaft ist die Wiederherstellung der Indigenenbehörde FUNAI, die ihren Namen in Nationale Stiftung für indigene Völker geändert hat.

Und die Wiederbelebung des nationalen Ernährungsrates CONSEA durch Lula lässt sich sogar als Sieg Ihrer Organisation FASE sehen?

Tura: Für FASE ist das ein zentrales Thema. Wir waren an der Wiederbelebung des Ernährungsrates vor 20 Jahren beteiligt und sogar im Vorsitz. Die Ernährungssouveränität ist einer der Grundpfeiler unserer Gesellschaft, und wir denken dabei an die Rolle der bäuerlichen Familienbetriebe und traditionellen Völker.
Es ist also sehr wichtig, dort weiterzumachen, wo die Vorgänger-Regierungen abgebrochen haben. Dass für den Rat jetzt wieder das Generalsekretariat der Präsidentschaft der Republik zuständig ist,  zeigt, welche Bedeutung dem Thema beigemessen wird. Denn wir können nicht über Ernährungssouveränität nachdenken, ohne an die Umweltproblematik, die Landfrage, die Ungleichheiten zwischen den Ethnien und den Geschlechtern zu denken.

Wir haben auch die Zusage, dass die 6. Nationale Konferenz zur Ernährungssicherheit noch in diesem Jahr stattfinden wird. Und FASE wird sicherlich dabei sein, um diesen Prozess zu stärken.

Was uns allerdings noch fehlt, ist die Wiederaufnahme der Nationalen Politik für Agrarökologie und ökologische Produktion, PNAPO, durch die CNAPO (Nationale Kommission für Agrarökologie und ökologische Produktion). Sie sind weder im Generalsekretariat noch im Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung und Familienlandwirtschaft (MDAAF) vertreten. 

Und die Ministerposten für Frauen –  ebenfalls eine wichtige Errungenschaft?

Tura: Im Bereich des Frauenministeriums möchte ich den Wiederaufbau des  Nationalen Sekretariats zur Bekämpfung von Gewalt hervorheben, die Rückkehr zum Programm "Frauen leben ohne Gewalt" und die Unterstützung von Gewaltopfern über Frauenhäuser.

Und auch das wiederbelebte Ministerium für die Gleichstellung ethnischer Gruppen mit Anielle Franco als Ministerin ist eine Errungenschaft. Hier wird anerkannt, dass wir ein ungleiches Land sind und dass Politik und Quoten wichtig sind, um diese Ungleichheit zu ändern, weil sie von selbst nicht verschwinden wird.

Welches sind die Herausforderungen für NGO’s in den nächsten vier Jahren?

Tura: Die extreme Rechte ist immer noch sehr stark in unserem Land. Außerdem haben wir eine Koalitionsregierung mit einem breiten Spektrum politischer Kräfte, so dass es keine leichten vier Regierungsjahre werden.
Zivilgesellschaftliche Organisationen und NGOs werden eine wichtige Rolle bei der Bildung des politischen Bewusstseins spielen, indem sie eine intersektionale Perspektive einbringen und die Widersprüche der brasilianischen Gesellschaft sichtbar machen.
Es liegt also ein langer Weg vor uns, den wir gerade erst beginnen.

*Das Interview führte die Journalistin Paula Schitine