Seit Sommer Juli 2024 hat Indien ein neues Strafrecht. Es ersetzt die Strafprozessordnung, das indische Beweisgesetz und vor allem das Strafgesetzbuch, das von 1860, also aus der britischen Kolonialzeit stammt. Das Innenministerium arbeitete seit 2020 an der Reform und legte seine Gesetzentwürfe erstmals 2023 dem Parlament vor, das diese im Juli 2024 verabschiedete.
Wie kaum anders zu erwarten, hat die Reform und das Prozedere in Indien zu heftigen Kontroversen geführt. Die Zivilgesellschaft sei im Vorfeld nicht ausreichend konsultiert worden, lautet ein Vorwurf. Außerdem habe es, so sehen es Oppositionspolitiker, keine ausreichenden parlamentarischen Beratungen gegeben, da 146 Abgeordnete zum Zeitpunkt der Debatten suspendiert gewesen wären. Dass eine Reform überfällig war, dürfte aber der allgemeine Konsens sein.
Modernisierung und Entkolonisierung
Die Regierung begründet ihren Schritt auch an erster Stelle mit der notwendigen Modernisierung des Rechts sowie mit der Entkolonisierung Indiens. Die neuen Paragraphen würden das Strafrechtssystem in ein "Swadeshi-System" verwandeln, das auf einheimischen Prinzipien und Bedürfnissen basiert, sagte z.B. Indiens Innenminister Amit Shah. Das schlägt sich auch im neunen Namen Bharatiya Nyaya Sanhita (BNS) statt Indian Penal Code (IPC) nieder.
Außerdem sei aufgrund der aktuellen Schwerfälligkeit der Justiz mit ihren Millionen von anhängigen Prozessen eine Anpassung an aktuelle Technologien unausweichlich gewesen. So sollen elektronische Aufzeichnungen wie E-Mails, Sprachnachrichten, Serverprotokolle und Standorte künftig als Beweismittel zulässig sein, ebenso wie im Prozess die Videozuschaltung von Zeugen. Zur Dokumentation muss die Polizei künftig zwingend den Tatort und Beschlagnahmungen auf Video aufzeichnen, und Forensiker müssen bei schweren Straftaten zwingend den Tatort besuchen.
Die Neuerungen bei den Beweismitteln machen Menschenrechtlern allerdings Sorgen. So befürchtet z.B. Aakar Patel von Amnesty International Indien, dass die Elektronisierung in Ermangelung eines soliden Datenschutzgesetzes zu Missbrauch führen könne.
Umstrittene Details
Und es gibt weitere Kritik inhaltlicher Natur. So wird von Rechtsexperten zwar einerseits begrüßt, dass ein alter Aufwiegelungsparagraph (Sedition Law), der unter den Briten gegen Unabhängigkeitskämpfer, vom unabhängigen Staat danach gegen Regierungskritiker eingesetzt wurde, nun nicht mehr existiert. Doch das Gesetzbuch enthält nun eine neue Bestimmung, die „Handlungen, die die Souveränität, Einheit und Integrität Indiens gefährden“, unter Strafe stellt.
Aus Sicht mancher Kritiker, wie Aakar Patel, entspricht das dem alten Volksverhetzungsgesetz – die Gefahr, dass Kritiker verfolgt würden, bestehe also weiterhin.
Kritisiert wird außerdem, dass die Zeit, die die Polizei eine verdächtige Person festhalten kann, von 15 auf 60 Tage und in einigen Sonderfällen auf bis zu 90 Tage erhöht wurde.
Aus Sicht von Rechtsexperten sind nun weitere Schritte notwendig. Ein Anwalt des Obersten Gerichtshofs findet, dass die neuen Gesetze einige Artikel der Verfassung und Urteile des Obersten Gerichtshofs verletzen, vor allem in Bezug auf den Schutz vor unrechtmäßiger Inhaftierung.
Langfristig müssen aus seiner Sicht daher weitere Änderungen erfolgen, um die drei Gesetze in Einklang mit der Verfassung zu bringen.
Sehr positiv bewertet der DLF in einem aktuellen Beitrag die Neuerungen mit Blick auf die zahlreichen Vergewaltigungen, mit denen Indien immer wieder Schlagzeilen macht.
So nennt der Radiobeitrag die Erweiterung des Strafmaßes für Vergewaltigung auf lebenslange Haft und in besonders schweren Fällen (von Gruppenvergewaltigung) auf die Todesstrafe. Zusätzlich seien 21 weitere Straftatbestände in das Gesetz aufgenommen worden, darunter sexuelle Nötigung und eine Verschärfung des Verbots von Kinderheiraten. Kinderheirat werde nun mit denselben Strafmaßen wie Vergewaltigung geahndet. Das soll die arrangierten oder Zwangsehen von minderjährigen Frauen, die zwar verboten, aber auf dem Land noch weit verbreitet sind, weiter eindämmen. Den Straftatbestand einer Vergewaltigung in einer Ehe unter Erwachsenen, wie von Frauenrechtlerinnen gefordert, wird es allerdings in Indien auch künftig nicht geben.
Anzeigen nun auch online möglich
Polizei und Gerichte seien künftig verpflichtet, Vergewaltigungsfälle schneller zu bearbeiten, so der DLF: Ein medizinischer Befund muss innerhalb von sechs Tagen vorliegen, und ein Urteil soll spätestens nach 45 Tagen gefällt werden. Digitale und elektronische Beweise wie Videoaufnahmen und Social-Media-Posts werden nun als starke Beweise anerkannt, und Anzeigen können online eingereicht werden.
Dies stelle, so der DLF, eine wesentliche Erleichterung dar, da die Polizei oft frauenfeindlich agiere und Opfer von Vergewaltigungen häufig selbst beschuldige. Darüber hinaus können Opfer ihre Zeugenaussagen nun digital per Video machen, was Demütigungen während persönlicher Verhöre verhindern soll.
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