Die koloniale Aneignung der Atmosphäre

Zahlen und Fakten zur Klimaungerechtigkeit

„Wie kann es sein, dass wir uns beim Klimaschutz so anstrengen sollen, wo doch China so viel mehr CO2 in die Luft bläst?“ Dies ist eins der zahlreichen Argumente von Klimaschutz-Verdrossenen in Deutschland – und offensichtlich wird hier ein Gefühl von Ungerechtigkeit transportiert.
Zahlen belegen allerdings, dass die große Ungerechtigkeit auf unserem Globus woanders liegt. Schon in der Vergangenheit haben Europa und die USA sich für ihre Industrialisierung die Atmosphäre angeeignet. Mit ihren CO2-Altlasten hat die Welt noch heute zu tun. In der Gegenwart fahren sie damit fort, nur sind mit den Schwellenländern weitere große Verschmutzer hinzugekommen.
Würde allerdings allen Ländern der Welt (in Relation zur Bevölkerungsgröße) ein gerechtes CO2-Verschmutzungsbudget zugeteilt, wie das kürzlich eine spannende Studie getan hat,
so hätte auch Deutschland sein Budget schon um das zweifache überschritten – der Industrialisierungs-Nachzügler Indien dagegen hätte noch ein beachtliches Verschmutzungsguthaben und in geringerem Umfang sogar China.

 

China übergibt der Atmosphäre derzeit pro Jahr gigantische 11,4 Mrd Tonnen CO2 und ist damit zum größten CO2 Emittenten der Welt aufgestiegen. Es verantwortet 30,7 Prozent der globalen Emissionen (Zahlen von 2022) (1). Die USA liegen bei 13,6 %, die EU bei 7,43 Prozent und Deutschland trägt 1,79 % zum CO2-Problem bei. Doch ein Blick auf die Bevölkerungsgröße der genannten Länder rückt die Dimensionen etwas zurecht. Das Riesenland China beherbergt 1,4 Mrd Menschen, also das Dreifache der EU und viermal soviel wie die USA. Der CO2-Fußabdruck einer Chinesin lag 2022 mit 8 Tonnen/Jahr etwa gleichauf mit dem einer Deutschen (8 t) und weit unter dem einer US-Amerikanerin (14,9 t).

Auch die Wirtschaftsmacht Indien, die inzwischen im Länder-Ranking der Klimasünder nach China und den USA auf Platz drei angekommen ist und mit 2,83 Mrd Tonnen pro Jahr etwas mehr CO2 verantwortet als die EU der 27 Mitgliedstaaten (2,76 Mrd t), steht beim Pro-Kopf-CO2-Fußabdruck gar nicht schlecht da. Ganze 2 Tonnen CO2 setzte das Leben einer Inderin in 2022 frei, also ein Viertel einer Durchschnittsdeutschen.

 

 

Das ganze Ausmaß der Klimaungerechtigkeit in unserer Welt zeigen allerdings erst Fußabdruck-Vergleiche von Europäerinnen mit dem von Menschen aus Ländern wie Burkina Faso oder Senegal, die zum großen Teil von kleinbäuerlicher Landwirtschaft leben. Häufigere Dürren und  Überschwemmungen durch die Erderwärmung treffen sie mit ganzer Wucht, obwohl ihr Lebensstil so gut wie kein CO2 verursacht. Ganze 0,7 Tonnen trägt eine Senegalesin bei, eine Bürgerin Burkina Fasos sogar nur 0,3 Tonnen, während eine Deutsche (siehe oben) besagte 8 Tonnen ausstößt (also das 11 fache einer Senegalesin) und ihr Leben noch weitgehend unbeeinträchtigt von Klimawandel führen kann.
 

Ähnlich verträglich wie das CO2-Profil westafrikanischer Mitmenschen dürfte übrigens auch das indischer Kleinbäuerinnen und –bauern sein. Diese rund 50 Prozent der indischen Bevölkerung setzen nur wenig Kohlenstoff frei und ermöglichen so der wohlhabenden Mittelschicht ihres Landes einen „westlichen“ Lebensstil mit entsprechender CO2-Bilanz. Die große Klimaungerechtigkeit innerhalb Indiens wird durch die Durchschnittszahl 2 Tonnen CO2 pro Jahr und Kopf verdeckt.

 

Die historische Klimaschuld
 

Noch deutlicher zeigt sich die globale Klima-Ungerechtigkeit bei einem Blick in die Vergangenheit. Die Industrieländer des Nordens belasten die Atmosphäre bereits seit über 200 Jahren mit Kohlenstoff-Emissionen, ihr „Entwicklungsweg“ auf Basis von Kohle und Stahl war bis ins 20. Jahrhundert hochgradig klimaschädlich. Bekanntlich begab sich England bereits Ende des 18. Jahrhunderts auf diesen Weg und bis 1882 verursachte es mehr als die Hälfte der kumulierten weltweiten Emissionen. Deutschland, andere Länder Europas und die USA zogen im 19. Jahrhundert nach – 1911 gingen die USA in Führung. Die Tabelle zeigt: Mit rund 427 Milliarden Tonnen sind die USA seit 1750 für ein Viertel der historischen Emissionen bis 2022 verantwortlich, die EU zusammen immerhin auch für 16,7 %. Etwas weniger (14,7 Prozent) ist China zuzuschreiben, und Indien ist mit 3,4 % – historisch gesehen – fast bedeutungslos.

Da CO2 über Jahrhunderte (2) in der Atmosphäre verbleiben kann, ist es naheliegend, die Länder auch für diese historischen und nicht nur die aktuellen Emissionen zur Verantwortung zu ziehen. Das sehen vor allem Vertreterinnen des globalen Südens so, also jener Länder, die heute die stärksten Schäden und Verluste durch den Klimawandel verzeichnen, selbst aber erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit einer klima-schädlichen Entwicklung begonnen haben.

 

„Neokoloniale“ Aneignung des Gemeinguts Atmosphäre


Reparationen für in der Vergangenheit verursachte Emissionen werden allerdings von Politiker:innen und Rechtstheoretikern kritisch gesehen, weil die Klimaschädlichkeit fossiler Energieträger noch nicht bekannt war und somit kein schuldhaftes Verhalten vorliegt.

Uns interessiert daher ein Ansatz, der für die Quantifizierung von Klimaschulden des globalen Nordens gegenüber dem Süden gar nicht so weit in die Vergangenheit zurückgeht. Fanning und Hickel haben in einer vielbeachteten Studie (3), veröffentlicht im Juni 2023, das Jahr 1960 zum Ausgangspunkt gemacht, „da die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Einfluss der Verbrennung fossiler Brennstoffe auf die CO2-Emissionen und die Temperatur in der Atmosphäre bereits in den 1950er Jahren gut verstanden wurden“, so die Autoren.

Von diesem Stichjahr ausgehend haben sie, auf Grundlage eines IPCC-Szenarios (4) für eine 1,5 Grad konforme Entwicklung, die von 1960 bis 2050 mögliche CO2-Menge berechnet, die nicht überschritten werden darf, wenn die Welt die Begrenzung der Erderwärmung auf das Pariser Klimaziel noch schaffen möchte. Sie kamen auf ein globales „Verschmutzungsbudget“ von 1,8 Billionen Tonnen CO2. (5)

Geleitet von dem ethischen Prinzip, dass die Atmosphäre ein Gemeingut ist und allen Menschen gleichermaßen zusteht, haben sie dann dieses Budget auf 168 Länder der Welt gemäß deren Bevölkerungszahl umgelegt.

Die Berechnungen ergaben, dass die meisten Länder der Nordhalbkugel ihre gerechten Anteile am globalen CO2-Budget schon jetzt überschritten haben: Deutschland und England zweifach bzw 2,5 fach, die USA sogar vier-fach. Damit hätten sich diese Industrieländer, so die Autoren, die Kohlenstoffbudgets der südlichen Länder ganz selbstverständlich angeeignet. Dies würde der Begriff „climate coloniality“ (Klima-Kolonialität) ausdrücken (6).


Gerechte Ausgleichzahlungen in Billionenhöhe


Und was steht nun den Ländern zu, die von den „Klimakolonialmächten“ um ihre gerechten Anteile am Gemeingut Atmosphäre gebracht wurden und werden? Fanning und Hickel haben die überschießenden Emissionen von 67 Ländern in Form von Kohlenstoffpreisen dargestellt, die der Weltklimarat IPCC in seinem sechsten Sachstandsbericht (IPCC-AR6) als nötig für die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 °C angegeben hat. Das sei eine Möglichkeit, so die Autoren, die Aneignung der Atmosphäre in einer Weise zu quantifizieren, „die historische und aktuelle Verantwortlichkeiten berücksichtigt“.

Die Berechnungen ergeben Zahlungen in einer Dimension, die sich sehen lassen kann. Insgesamt 67 Länder, Industrieländer des globalen Nordens sowie reiche Ölmonarchien des Südens haben ihr Budget überschritten, sie müssen zusammen 192 Billionen Dollar (also 192.000 Milliarden Dollar!!!) an die „undershooting countries“ zahlen, also an die, die ihr Budget noch nicht ausgeschöpft haben. Das sind 101 Länder, unter ihnen Indien, das bisher erst ein Viertel des ihm zustehenden CO2-Anteils produziert hat. Indien würde 57 Billionen Dollar zustehen, den Ländern Subsahara-Afrikas zusammen 45 Billionen und selbst China (7) bekäme 15 Billionen. Im Durchschnitt aller dieser „Empfängerländer“ wäre das ein Ausgleich von 940 Dollar pro Kopf und Jahr.

Von den Gesamtschulden des Nordens hätten allein die USA 80 Billionen zu zahlen, jährlich 2,6 Billionen und damit rund 15 Prozent ihres BIP, die EU wäre mit 46 Billionen in der Pflicht.

Das verweist nocheinmal auf die zugrundeliegende Idee: Die Ausgleichszahlungen der Industrieländer wären eine Entschädigung dafür, dass die „undershooting countries“ des globalen Südens auf die ihnen zustehenden Anteile an der Atmosphäre und das ihnen zustehende Verschmutzungsbudget verzichten, damit alle Länder der Welt zusammen das 1,5 Grad-Klimaziel noch erreichen können. 

Das wäre also etwas ganz anderes als jene Zahlungen in Höhe von 100 Milliarden jährlich, die seit 15 Jahren diskutiert werden. Auf dem Klimagipfel 2009 in Kopenhagen hatten die Industrieländer den ärmeren Ländern für  Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel Unterstützungen zugesagt, die ab 2020 100 Mrd Dollar jährlich betragen sollten (und die, wie kürzlich bekannt wurde, nicht einmal in vollem Umfang geleistet werden).
Die von Fanning Hickel geforderten sehr viel höheren Entschädigungen für vom Norden angeeignete (geraubte) gerechte Anteile der Südländer an dieser unserer Welt wären dagegen ein tatsächlicher und angemessener Ausgleich von Ungerechtigkeit.

Von Isabel Armbrust, aktualisiert am 04.01.2024

 

ANMERKUNGEN:

Um die Lesbarkeit des Textes trotz der vielen Zahlen nicht einzuschränken, haben wir auf die genderkorrekte Schreibweise mit Doppelpünktchen verzichtet und zur Abwechslung konsequent die weibliche Form verwendet.Ihre Redaktion

(1) Alle Zahlen von „our world in data“, www.ourworldindata.org

(2) Genauer zur Verweildauer von Klimagasen: www.deutsches-klima-konsortium.de/de/klimafaq-12-3.html

(3) Fanning, A.L., Hickel, J. Compensation for atmospheric appropriation. Nat Sustain (2023). doi.org/10.1038/s41893-023-01130-8

(4) Will die Welt die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad noch schaffen, dann müssen die CO2-Emissionen bis 2030 halbiert und bis 2050 auf netto null sein, so der jüngste Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) von 2023

(5) Dazu zunächst die CO2-Emissionen jedes Landes von 1960 bis 2019 ermittelt und mit den ab 2020 zu erwartenden Emissionen jedes Landes auf Basis seiner spezifischen Minderungsraten bis Netto Null im Jahr 2050 addiert. Parallel dazu haben die Autoren das Gleiche auch noch für ein business-as-usual-Szenario durchgespielt: Die Länder des Südens, die in einem Netto-Null-Szenario bis 2050 nur 50 Prozent ihres fairen Anteils von 1,5 Grad verbrauchen würden, würden bei einer Fortschreibung aktueller Emissionstrends (also business as usual) immerhin noch innerhalb ihres fairen Anteils am 2 Grad Kohlenstoffbudget bis 2050  bleiben.

(6) Sultana, F. Critical climate justice. Geogr. J. 188, 118–124 (2022).
Warlenius, R. Decolonizing the atmosphere: the climate justice movement on climate debt. J. Environ. Dev. 27, 131–155 (2018).
Sultana, F. The unbearable heaviness of climate coloniality. Polit. Geogrhttps://doi.org/10.1016/j.polgeo.2022.102638 (2022).

(7) Hier sei nocheinmal erinnert, dass alle diese Berechnungen innerhalb eines 1,5 Grad- Szenarios (bei dem bis 2050 die Netto-Emissionen bei Null sein müssen) stattfinden. Zum Vergleich haben Fanny/Hickel auch ein „business-as-usual“ Szenario durchgespielt, bei dem das 1,5 Grad Kohlenstoffbudget schon 2030 aufgebraucht wäre und das für eine 2 Grad-Erwärmungsgrenze etwa 2044. China wäre, sollte es den „business as usual“-Weg gehen und seine Verschmutzungstrends fortschreiben, im Jahr 2050 für 27 % der 1,5 Grad-Überschreitung verantwortlich, die nördlichen Industrieländer würden dann 60 Prozent der Überschreitung verantworten.

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