Die translokale Perspektive

Rezension von „Afrika in Bewegung“  von Malte Steinbrink und Hannah Niedenführ

Afrika, das in Europa mit Massenauswanderung assoziiert wird, ist ein Kontinent der Binnenmigration. Millionen von Menschen südlich der Sahara sind „in Bewegung“ und leben und arbeiten an verschiedenen und zwischen verschiedenen Orten. Meist vollzieht sich dieses Hin und Her zwischen Land und Stadt.

Malte Steinbrink und Hannah Niedenführ laden mit ihrem Buch „Afrika in Bewegung“ dazu ein, sich dieser „translokalen“ Realität in Subsahara-Afrika zu stellen. Denn künftig werden dort immer mehr Haushalte gezwungen sein, Existenzrisiken dadurch abzufedern, dass sie sich Standbeine sowohl in Stadt und Land suchen. Die Autor:innen richten diese Aufforderung sowohl an Entwicklungsforschung wie praktische Entwicklungszusammenarbeit, denn beide sind aus Sicht der Autor:innen noch immer auf trennende Perspektiven von Stadt versus Land wie auf territoriale Fixierungen eingeschworen.


Ausmaß der Translokalität

Zur quantitativen Abschätzung der Translokalität greifen die Autor:innen auf Erkenntnisse aus lokalen und regionalen Einzelstudien zurück. Denn zu Binnenmigrationen liegen so gut wie keine verlässlichen Zahlen vor und translokale Haushalte fallen durch das Raster von Datenerhebungen, z.B. von Zensusdaten, weil hier in der Regel von Sesshaftigkeit ausgegangen wird (S.95).

Nach Auswertung dieser Fallstudien aus 11 afrikanischen Ländern kommen die Autor:innen zu der Schätzung, dass 40 bis 60 Prozent der Menschen im ländlichen Subsahara-Afrika in translokal organisierten Haushaltsstrukturen leben. Bei den Städtern gehen sie sogar von rund 70 Prozent aus.

„In der Summe bedeutete das, dass in Afrika südlich der Sahara geschätzt mehr als eine halbe Milliarde Menschen – über 50 % der Gesamtbevölkerung – in translokale Livelihood-Systeme eingebunden sind“, so Steinbrink/Niedenführ (S.101). 


Vom Pionier zum Netzwerk

Wie aber entstehen die sozialen Netzwerke, die die translokalen Haushalte möglich machen? Steinbrink/Niedenführ gehen von drei Phasen aus.

Zunächst gehen Pioniere („Expandisten“) an einen andren Ort. Diese sind meist junge Männer – und es sind typische Arbeitsmigranten (S.113). In der zweiten Phase kommt eine Kettenmigration in Gang: Die Expandisten sind die Anlaufpunkte für weitere Migranten aus der Herkunftsregion. Die sich nun etablierenden Netzwerke werden von nachfolgenden Arbeitssuchenden genutzt, z.B. für Unterstützung bei Jobsuche oder Wohnen.

Sobald ein Migrant am Zielort über eine einigermaßen sichere Unterkunft und Arbeit verfügt, kommen auch Haushaltsmitglieder nach. Der Haushalt hat sich damit translokalisiert und die Migrationsformen werden vielfältiger. Es migrieren vermehrt Frauen und Kinder. Die Suche nach Sicherheit und Arbeit ist zwar immer noch wichtiges Migrationsmotiv, aber es kommen andere dazu. Migriert wird jetzt auch wegen eines Partners, besseren Bildungsmöglichkeiten, Gesundheit, Pflege von Angehörigen, Festen und Familienfeiern usw.


Wer bleibt, wer geht, wer kommt zurück

Die Arbeitsmigration von Männern hat in vielen Teilen Afrikas zu einem Ungleichgewicht im Geschlechterverhältnis geführt. Auf dem Land leben deutlich mehr Frauen - in der Stadt mehr Männer (S.118). In einigen ländlichen Gebieten von Burkina Faso kommen auf 100 Frauen nur noch 70 Männer.

Eine Besonderheit weiblicher Migrationsmuster zeigt eine Studie zu Slums in Nairobi: Frauen bewegen sich häufiger zwischen dem ländlichen Herkunftsort und der Stadt hin und her als die Männer.

Dieselbe Studie belegt auch, dass Frauen häufiger familienbezogene Migrationsmotive haben wie Heirat, Kindererziehung, Pflege. Drei Studien zu Ghana zeigen eine ähnliche Verteilung: 81 % der Migrantinnen haben familiäre bzw Heiratsgründe, nur 11 % verlassen ihre Ort für eine Erwerbstätigkeit (S.123).

Gut belegt ist auch die Altersstruktur der Gehenden und der Bleibenden: Auf Suche nach Lohnarbeit migrieren vor allem Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 45. Zurück bleiben die ganz Jungen und die Alten - wobei die zurückbleibenden erwerbsfähigen Erwachsenen am ländlichen Haushaltsstandort neben der Landwirtschaft auch eine wichtige Rolle in der Erziehung von Kindern sowie der Pflege von Alten und Kranken spielen.

Zum Ungleichgewicht in Bezug auf Alter trägt noch bei, das ältere Menschen zum Ende ihres Erwerbslebens oft in die ländlichen Haushaltstandorte zurückkehren.
Weil viele auch zum Sterben aufs Land kommen, sind im Übrigen dort auch die Mortalitätsraten höher und das verzerrt Statistiken.


Zusammenhang zwischen translokaler Organisation und Wohlstandsniveau

Sind ärmere Haushalte häufiger translokal organisiert als wohlhabende? Dazu finden die Autor:innen in der Forschung keine einhelligen Antworten. Klar ist die Datenlage nur in Bezug auf internationale Migration: Diese scheint eine Strategie der Wohlhabenderen zu sein (S.145).

Allerdings spricht aus Sicht von Steinbrink/Niedenführ einiges dafür, dass Transmigration nicht dazu beiträgt, vorhandene Disparitäten innerhalb ländlicher Gemeinschaften auszugleichen, sondern dass sie eher das Existenzniveau zementiert.

Schon bei den Migrationsmotiven zeigen sich Unterschiede: Die ärmeren und verwundbareren Haushalte translokalisieren sich aus Sicherheitsgründen und zur Krisenbewältigung. Mit einem ländlichen und städtischen Standbein meinen sie ihre Risiken besser abfedern zu können. Sie nehmen zugunsten von „Safety First“ sogar Einkommensverluste in Kauf - z.B. durch das Fehlen junger Familienmitglieder in der Landwirtschaft (S.70).

Wohlhabendere dagegen migrieren aus Sicht der Autor:innen eher im Sinne der Nutzenmaximierung und Akkumulation (S.71).

Nicht zuletzt, weil die Mitglieder wohlhabender ländlicher Familien meist über mehr Bildung und dadurch bessere Chancen am Arbeitsmarkt verfügen, sind sie auch in der Stadt wohlhabender. Ihre Rücküberweisungen aufs Land fallen dadurch höher aus.
Umgekehrt bleiben arme ländliche Haushalte trotz Geldüberweisungen aus der Stadt arm, denn dieses zusätzliche Einkommen wird am ländlichen Haushaltsstandort vornehmlich für konsumtive Zwecke verwendet und nur in seltenen Fällen investiert (S.133).


Trend zu noch mehr Translokalität

Steinbrink/Niedenführ gehen davon aus, dass infolge von Krisen und ökonomischer Disparitäten die translokale Existenzsicherung noch zunehmen wird. Denn weder auf dem Land noch in der Stadt sind die Bedingungen für verwundbare Gruppen so, dass ganze Haushalte dauerhaft von den ökonomischen Möglichkeiten dort leben können.
Unterstützt wird dieser Trend noch durch die Möglichkeiten der mobilen Kommunikation und die Erleichterung von Geldüberweisungen z.B. durch Systeme des mobile cash transfers, die z.B. Orange Money in Burkina Faso bereitstellt.

Die digitale Kommunikation hat dabei auch eine ganz überraschende Auswirkung auf das Mann-Frau Verhältnis: Spielräume, die die Frauen durch Arbeitsmigration in die Stadt oder infolge ihrer alleinigen  Zuständigkeit für die Landwirtschaft gewonnen haben, werden durch die digitalen Kontrollmöglichkeiten der Männer, sprich durch mobile Kommunikation, wieder eingeschränkt.

Weil uns, die ASW, die Auswirkungen der translokalen Haushaltsorganisation auf das Geschlechterverhältnis ganz besonders interessieren, haben wir die wesentlichen Ergebnisse mit dem Einverständnis der beiden Autor:innen auf S. 13 zusammengestellt.

Wir sprechen den beiden Autor:innen hier einen großen Dank für ihre Systematik, für ihren Abriss der Theorieentwicklung und besonders für die Auswertung der großen Zahl von Einzelstudien der vergangenen 30 Jahre aus. Dadurch ist das Buch eine enorm hilfreiche Handreichung für Menschen, die außerhalb der universitären Forschung zu Afrika arbeiten (wie zum Beispiel die Mitarbeiter:innen der ASW).
Außerdem regt es zu einer mentalen Ablösung vom vertrauten Ort an und damit zu einer Translokalisierung im erweiterten Sinne. Allen Menschen in der entwicklungspolitischen Praxis würden wir aus diesem Grund den Blick über den Zaun hin zu den Sozialwissenschaften und hin zur politischen Geographie – und damit dieses Buch - wärmstens empfehlen.

Von Isabel Armbrust

Malte Steinbrink, Hannah Niedenführ:
Afrika in Bewegung - Translokale Livelihoods und ländliche Entwicklung in Subsahara-Afrika
Bielefeld 2017, 280 Seiten.

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