Muster der Binnenwanderung in Indien

Historisch gesehen fanden auf dem indischen Subkontinent relativ wenige Migrationsbewegungen statt. Gründe dafür sind u.a. das Kasten-System, eine landwirtschaftlich und semi-feudal geprägte Gesellschaft sowie die Vielzahl unterschiedlicher Sprachen und Kulturen. Doch die schnell wachsende indische Wirtschaft mit einer Verschiebung vom Agrarbereich hin zu Industrie und Dienstleistungen, Verbesserungen in Transport- und Kommunikationsinfrastruktur sowie ein gestiegenes Bildungsniveau trugen zu dem Anstieg von Binnenmigration bei.

Bei Migration handelt es sich in erster Linie um teils sehr komplexe Einzelschicksale, deren Hintergründe individuell verschieden sind. Zur Durchdringung der Thematik ist es daher unerlässlich, die Perspektive auf den einzelnen Menschen zu richten und seine persönlichen Erfahrungen miteinzubeziehen. Nichtsdestotrotz vermag der Blick aus der Distanz weitere Aspekte bewusst zu machen. So zeichnen die Daten des indischen Zensus ein zum Teil überraschendes Bild der Binnenmigration.

Die im letzten Zensus von 2011 erhobene Zahl der indischen Binnenmigrant:innen liegt bei 456 Millionen. Während deren Anteil an der Gesamtbevölkerung von 1971 bis 2001 recht konstant bei ca. 30 % lag, ist er bis 2011 auf 37 % angestiegen. Diese Zahlen schließen alle Personen ein, die über Stadt- bzw. Dorfgrenzen hinaus migriert sind.

Erstaunlich ist der mit 68 % hohe Anteil von Frauen an der Binnenmigration. Auch wenn der Anteil der Männer innerhalb der letzten Dekaden zunahm, zählt der Zensus von 2011 immer noch mehr als doppelt so viele migrierende Frauen als Männer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Frauen im Zuge einer Heirat in der Regel den elterlichen Haushalt verlassen und bei ihrem Ehemann einziehen. So gaben 67 % der migrierten Frauen Heirat als Grund an.

Distanz der Migrationsbewegungen

Um die sehr hohe Zahl der Binnenmigrant:innen im Zensus 2011 zu verstehen, ist es sinnvoll, die Migrationsbewegungen hinsichtlich ihrer Distanz zu differenzieren. Denn 60 % aller Binnenmigrant*innen ziehen innerhalb ihres Distrikts von einem Ort zum anderen und legen folglich keine weiten Strecken zurück. Der Anteil an Migrant:innen, die zwischen zwei Distrikten migrieren, liegt bei 26 %, und zwischen zwei Bundesstaaten bei lediglich 12 %.
Von den insgesamt 456 Mio Binnenmigranten Indiens (37 % der Gesamtbevölkerung) migrieren also nur 172 Mio über die Grenzen ihres Distriktes hinaus. Das sind 14 % der Gesamtbevölkerung.

Interessant ist dabei, dass Männer, wenn sie innerhalb Indiens migrieren, eher über weitere Distanzen migrieren. Denn auch wenn der Anteil der Frauen, die über Bundesstaatsgrenzen hinaus migrieren in den letzten Jahren zunahm und mit 1.000 zu 785 immer noch über der der Männer liegt, ist der männliche Anteil in diesem Kontext am größten. Im Gegensatz dazu sind es bei den Migrationsbewegungen innerhalb eines Bundesstaates – also bei kürzeren Distanzen – nur 433 Männer pro 1.000 Frauen.

Land-Land oder Land-Stadt: Die Richtung der Migrationsströme

Weiter lassen sich aus den Daten des indischen Zensus Informationen über die Richtung der Migrationsströme ableiten. So liegt der der Anteil der Menschen, die innerhalb eines Bundesstaates vom Land in die Stadt ziehen, bei lediglich 17 Prozent. Menschen, die ihren Bundesstaat verlassen, gehen allerdings zu 38% vom Land in die Stadt.

Bewegungen von einem ländlichen Gebiet in ein anderes ländliches Gebiet machen innerhalb eines Bundesstaates mit 51 % (202 Millionen Menschen) den größten Teil aller Binnenmigrant:innen aus. Zwischen zwei Bundesstaaten liegt er nur bei 22%.

Berücksichtigt man nur Migrationsbewegungen auf längere Distanzen (also zwischen Distrikten sowie zwischen Bundesstaaten) bleibt die Land-Land Migration mit 37 % ebenfalls am stärksten vertreten. Bewegungen der Richtung Land-Stadt sowie Stadt-Stadt nehmen je 28 % ein. Entgegen dem gängigen Narrativ der Migration vom Land in die Stadt zeigen die Zahlen also, dass tatsächlich mehr Menschen von einem ländlichen in ein anderes ländliches Gebiet migrieren.


Die Stadt ist ein Migrationsziel der Männer

Bringt man nun bei den Migrationsrichtungen das Kriterium Geschlecht ins Spiel, treten weitere Auffälligkeiten zu Tage. So ist das Geschlechterverhältnis bei der Land-Land Migration innerhalb eines Bundesstaates mit nur 201 Männern pro 1.000 Frauen sehr unausgewogen. Den anderen Pol bilden die Migrationsbewegungen der Richtung Land-Stadt auf lange Distanzen, also zwischen Bundesstaaten: dies ist die einzige Domäne, in der mit 1.213 Männern pro 1.000 Frauen mehr Männer migrieren. Es lässt sich schließen, dass auf längere Distanzen, und mit dem Migrationsziel Stadt, verhältnismäßig mehr Männer migrieren, während der Anteil von Frauen auf kurze Distanzen, insbesondere in der Richtung Land-Land am größten ist.
 

Heirats- oder Arbeitsmigration?

Wie bereits erwähnt lässt sich Heirat als treibender Faktor der indischen Binnenmigration identifizieren. So ist die Eheschließung der Grund für 46 % der gesamten Migrationsbewegungen – 4% bei Männern und 67 % bei Frauen. Demgegenüber gaben 24 % der Männer Arbeit beziehungsweise eine Anstellung als Anlass an, während es bei Frauen hier nur 2 % sind. Dabei spielen auch die häufigen Versetzungen von Angestellten durch indische Arbeitgeber eine Rolle.
 Interessant ist außerdem, dass der Wohlstand eines Bundestaates nicht nur für mehr Migration in diesen Bundesstaat sorgt, sondern auch mit höheren Raten ausgehender Migration korreliert. Erstaunlicherweise stehen Faktoren wie Alphabetisierungsrate, Kindersterblichkeitsrate sowie Armut innerhalb eines Bundesstaates allerdings in keinem signifikanten Zusammenhang mit dem Ausmaß der Abwanderung.


Wohlhabendere migrieren häufiger als die ganz Armen

Push-Faktoren wie ländliche Armut erhöhen die ausgehende Migration vom Land nur gering. Dies lässt sich eventuell mit einem niedrigen Bildungsniveau der Landbevölkerung erklären, sowie einer Reihe von Umständen, die ihr Überleben in der Stadt erschweren: dazu zählen hohe Lebenserhaltungskosten, fehlende Wohnmöglichkeiten, sowie die Diskriminierung von Menschen aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen durch Stadtbewohner:innen und Stadtverwaltungen.

Damit übereinstimmend zeigten bereits frühere Studien, dass nicht die Armen ländliche Gebiete verlassen, sondern in erster Linie wirtschaftlich besser gestellte Menschen mit Bildung.
Daten der National Sample Survey Organization von 2001 lassen den Zusammenhang zwischen Einkommen und Migrationsraten erkennen: so migrieren die finanziell stärksten Schichten am meisten, die finanziell schwächsten am wenigsten. Sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum zeichnet sich bei steigendem Einkommen eine systematisch steigende Migrationsrate ab.


Kann der Zensus alle Migrationen erfassen?

Letztendlich stellt sich noch die Frage, wer überhaupt alles vom Zensus registriert wird und wer nicht. Es ist davon auszugehen, dass die Migrationsbewegungen von marginalisierten Teilen der Bevölkerung tendenziell schlechter erfasst werden. Dazu zählen besonders benachteiligte Gruppen wie Dalits oder Adivasi, aber auch zirkuläre und saisonale Migration, wie sie überwiegend von Arbeitskräften im Agrarbereich praktiziert wird. Trotz allem macht dieser Blick aus der Makroperspektive deutlich, dass es Migrationsströme gibt, die nicht ausreichend beachtet werden und im Diskurs zu Migration untergehen. Dazu zählen sowohl die Migrationsströme von einem ländlichen in ein anderes ländliches Gebiet, als auch Heiratsmigrationen von Frauen, die im Zuge einer Eheschließung den Haushalt wechseln.
Allerdings ließe sich auch die Frage stellen, ob Migration aufgrund von Heirat überhaupt in der Kategorie Binnenmigration erfasst werden und damit in einem Atemzug mit prekärer Arbeitsmigration genannt werden sollte. Schließlich mögen der Kontext und die von den Migrant:innen erfahrenen Probleme bei Arbeitsmigration und Heiratsmigration gänzlich verschieden sein. Beiden sollte allerdings Beachtung geschenkt werden – ob wir sie nun in unserer Definition von Binnenmigrant:innen miteinschließen oder nicht.

Von Yannik Milz

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