Frauen in Indien - mutig und solidarisch auch in Krisenzeiten

Indiens Frauenbewegung und eine starke Zivilgesellschaft haben in den vergangenen vier Jahrzehnten viele Verbesserungen und wegweisende Gesetze erkämpft. Eine zunehmend repressive, konservative und zugleich extrem neoliberale Politik stellt aber viele Errungenschaften wieder zur Disposition. Das betrifft die Frauenrechte, aber auch die Menschenrechte von Dalits, Adivasi und besonders von Muslimen, die immer mehr zur Zielscheibe des Hindunationalismus werden. Daher sind heute für Indiens Frauenbewegung und die zahlreichen Netzwerke von Frauen-NGOs auch neue Schulterschlüsse angesagt.
Das macht die Frauenrechtlerin und Ex-Partnerin der ASW, Dr. Rukmini Rao* deutlich: „Frauen lassen sich trotz der vielen Einschränkungen nicht einschüchtern. Wir sind da, um für Gerechtigkeit und Recht zu kämpfen. Und nicht nur als feministische Aktivistinnen für Frauen, sondern Seite an Seite mit anderen marginalisierten Gemeinschaften.“

 

Indiens Frauen haben Rechte

Die größte Errungenschaft der Kämpfe der vergangenen Jahrzehnte ist für Rukmini Rao eindeutig die Etablierung einer Rechte-Perspektive. Der Frauenbewegung und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen sei es gelungen, die benachteiligten Gruppen der Gesellschaft und die Frauen aus der Opferrolle herauszuholen. „Früher wurden Frauen als Opfer betrachtet, die der Hilfe bedürfen. Folglich lag der Schwerpunkt z.B. auf der Einrichtung von Heimen für verwitwete Frauen. Im Laufe der Jahre verlagerte sich die Perspektive auf die Bildung von Frauen und in den frühen 2000er Jahren wurden Ansatz und Aktion auf die Rechte von Frauen ausgeweitet“.

Für den Kampf von Frauen oder Dalits oder anderer benachteiligter Gruppen macht es einen entscheidenden Unterschied, ob diese als Bittstellerinnen aktiv werden oder ob sie einfordern, was ihnen zusteht. Sobald Menschen wissen, dass sie Rechte haben und diese im Idealfall auch im Einzelnen kennen, treten sie mit einem anderen Selbstbewusstsein auf. Das Einfordern der diversen Rechte funktioniert allerdings nur in gemeinschaftlichen Prozessen. Um diese anzustoßen, regen alle ASW-Partnerorganisationen Frauen, Dalits oder Adivasi dazu an, sich mit anderen zu Selbsthilfegruppen zusammenzuschließen. Wo nötig, klären diese zunächst zu den Rechten auf.
 

Organisierte Frauen sind stark

Das Konzept der Selbsthilfegruppen reicht in Indien bis in die 80er Jahre zurück. Schon damals förderten Gruppen der Zivilgesellschaft die Organisierung der Frauen in Indiens Dörfern und ihren Zusammenschluss in Spar- oder Selbsthilfegruppen. Denn als Gruppe können Kleinbäuerinnen gegenüber den Männern des Dorfes stärker auftreten, haben eine bessere Verhandlungsmacht gegenüber Behörden oder Zwischenhändlern und erhalten günstige Kleinkredite, weiß Rukmini Rao. Die Idee sei dann ab Ende der 90er Jahre auch von der Weltbank aufgegriffen und von der indischen Regierung unterstützt worden. Die Situation vieler Frauen wurde dadurch verbessert.

 

Vernachlässigte und geförderte Bäuerinnen

Indien hat es in den 60er Jahren geschafft, von Weizenimporten aus den USA unabhängig, dann zum Selbstversorger und schließlich Exporteur von Nahrungsgetreide zu werden. Doch die massiven Produktionssteigerungen im Rahmen der sog. Grünen Revolution waren nur möglich durch hohen Wasserverbrauch sowie Pestizid und Düngereinsatz, für den sich viele Bäuer:innen verschulden und ihre Gesundheit ruinieren mussten. Heute ist Indien sogar in der Lage, Reis und andere Agrarprodukte zu exportieren, z.B. in Länder in Not wie Afghanistan.

Und doch fehlt aus Sicht Rukmini Raos allen Regierungen bis heute eine schlüssige Agrarpolitik. Gerade der kleinbäuerliche Sektor in den ausgedehnten wasserarmen Gebieten quer durch Indien wird vernachlässigt. Dabei produziert er rund 40% der Nahrung. Und er ist stark von den Bäuerinnen geprägt, die hier 70% der Arbeit tätigen, aber von Staat und Gesellschaft dennoch nicht als eigenständige Landwirtinnen betrachtet werden. Weder die nationale noch die Regierungen der Bundesstaaten erheben Daten zum Landbesitz der Frauen, der ihnen auf dem Papier zusteht. Auch hier füllen NGOs wie der ASW-Partner JJS oder das Klein-Bäuerinnen-Netzwerk MAKAAM eine Lücke und versuchen das Recht auf Eigentumstitel für Bäuerinnen durchzusetzen.

Auf Ebene der Bundesstaaten gibt es aber auch sinnvolle staatliche Programme, die Frauen direkt oder indirekt zugutekommen. Dazu gehört z.B. der ambitionierte Versuch des von 50 Mio. Menschen bewohnten Bundesstaates Andhra Pradesh, seine Landwirtschaft bis zum Jahr 2030 komplett auf Öko umzustellen.

 

Bildung und Erwerbsarbeit 

Als gemischt stuft Rukmini Rao die Fortschritte bei der Bildung ein. Die Einschulung von Mädchen in Grundschulen ist besonders seit einem neuen Gesetz** 2009 gestiegen, doch die Zahl der Schul-Abbrecherinnen ist nach wie vor hoch, besonders in den unteren Klassen und Kasten.

Hier ist auch die weibliche Alphabetisierungsrate besonders niedrig. So liegt sie z.B. in einer Region des Bundesstaates Bihar, wo ein hoher Prozentsatz benachteiligter Muslim- und Dalitgemeinschaften lebt, bei nur 40%, im Großraum Delhi dagegen bei 83%. Bezogen auf ganz Indien gelten 66% aller Frauen (Zahl von 2018) als alphabetisiert.

Monatelange Schulschließungen in der Coronapandemie haben in jüngster Zeit wieder einen Rückschritt gebracht, besonders bei Kindern aus armen Familien. Viele sind zurück in der Kinderarbeit und werden kaum noch eine Chance haben, jemals wieder eine Ausbildung zu bekommen. Auch die Zahl der als Kind verheirateten Mädchen ist gestiegen.

Kasten- und klassenabhängig ist auch die Erwerbsquote von Frauen. Generell hat es schon vor der Corona-Pandemie – im Kontext ökonomischen Wachstums ohne Beschäftigungseffekte – einen ziemlichen Rückgang der weiblichen Erwerbstätigkeit gegeben: Der Global Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums 2021 beziffert die Beteiligung von Frauen an der erfassten Erwerbsarbeit im Land nur noch auf 22,3%, während sie 1990 immerhin bei 35% lag.

Durch die Pandemie verloren laut Rukmini Rao weitere Millionen von Frauen ihre bezahlten Jobs, meist wieder die Angehörigen der unteren Kasten und Klassen.

 

Gewalt gegen Frauen

Häusliche Gewalt gegen Frauen ist in Indien wie fast in jedem Land der Welt ein großes Thema. Aber ihr wirkliches Ausmaß ist schwer einzuschätzen, weil nur wenige Frauen Misshandlungen in der Familie auch zur Anzeige bringen. Oft fehlt auch das Bewusstsein dafür, dass der Schutz vor männlicher Gewalt ein Frauenrecht ist. Schwiegertöchter sind oft massiven physischen und psychischen Angriffen aller Familienmitglieder in ihrer neuen (Ehemann)-Familie ausgesetzt, wenn sie z.B. keinen Sohn gebären. Häusliche Gewalt gilt in vielen Familien aber höchstens als Kavaliersdelikt.

Dies war ein Ansatzpunkt für Indiens Frauenbewegung. In langjährigen Kampagnen hat sie bis Anfang der 2000er Jahre für einen Bewusstseinswandel gekämpft, für mehr Schutz für Frauen und für bessere Möglichkeiten, häusliche Gewalt zu ahnden.

Um die Jahrtausendwende war sie erfolgreich und 2006 trat das neue Gesetz zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt (PWDV-Act) in Kraft. Es ist im Zivilrecht angesiedelt und soll leichter zu einer Anzeige führen. Doch auch danach dauerte es noch lange, bis das Gesetz auch mit Leben gefüllt wurde. Erst 2017 hat die Regierung in jedem Bezirk und jeder Stadt Krisenzentren eingerichtet, um Frauen, die Gewalt erlebt haben, zu unterstützen und ihnen zu helfen, ihre Rechte einzufordern.


Auch bei der juristischen Verfolgung von Vergewaltigungen wurden Fortschritte erzielt. 2012, nach städtischen Protesten in Folge einer Gruppenvergewaltigung und auf Druck der Frauenbewegung, reformierte Indien im März 2013 die Strafrechtsparagraphen zu Sexualverbrechen. So weitet zum Beispiel der Paragraph 375 des indischen Strafgesetzbuches die Definition von Vergewaltigung aus. Auch wird das Strafmaß für Vergewaltigung erhöht.

Den beschriebenen Erfolgen steht allerding seit einigen Jahren ein stetiger Anstieg der verübten (und zunehmend erfassten) Gewalt gegenüber. Zum Teil erklärt er sich aus der größeren Bereitschaft, Fälle anzuzeigen. Auch soll während der Corona-Lockdowns die häusliche Gewalt gestiegen sein. Allerdings schnellten die erfassten Fallzahlen erst nach den Lockdowns in die Höhe, weil unter dem Ausnahmezustand keine Anzeigen aufgegeben werden konnten.

 

Die Spaltung der Gesellschaft

Es gibt heute wieder mehr Hunger und Fehlernährung in Indien. Daten des “The National Family Health Survey”, NFHS, belegen für 2019-20, dass 76% der ländlichen Haushalte sich kein Essen mit ausreichenden Nährstoffen leisten können. Da es oft die Frauen sind, die zuletzt essen, kann ermessen werden, wie ihr Ernährungsstatus ist. Zahlen des NFHS belegen auch, dass 52% aller verheirateten Frauen anämisch sind.

Rukmini Rao weist überdies darauf hin, dass Indien in allen globalen Rankings und Indizes zur menschlichen Entwicklung zurückgefallen ist. Indiens Position auf dem Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums (GGGR WEF) ist mit Platz 140 von insgesamt 156 Ländern (Schlusslicht bildet Afghanistan) 2021 deutlich schlechter als noch 2015, wo Indien Platz 108 von 149 Ländern belegte.

Auf dem Welthungerindex*** belegt Indien 2022 den 107-ten Platz von 121 Entwicklungs- und Schwellenländern, 2015 war Indien noch auf Platz 80.

Die Verschlechterungen der sozialen Lage von Frauen und aller niedrigen Kasten und Klassen, die durch diese Indizes aufgezeigt werden, sind aus Sicht von Rukmini Rao vor allem ein Ergebnis der neoliberalen Wirtschaftspolitik und des hindunationalistischen Kurses der Regierung. Ganze Bevölkerungsgruppen werden von dieser Politik einfach abgeschrieben. Die Pandemie hat als Katalysator gewirkt und wird weiterhin alle Notlagen noch einmal verschärfen.

 

Indiens Frauen sind nicht kampfesmüde – im Gegenteil!

Trotz schwieriger Umstände ist Indiens Frauenbewegung noch immer stark. Überall schließt sie sich auch mit anderen Bewegungen zusammen und unterstützt z.B. die stark diskriminierten Gruppen der indischen Gesellschaft wie die Dalits und Adivasi oder die nicht organisierten Arbeiterinnen (90% der Arbeiterinnen in Indien) im Kampf um ihre Rechte.

2021 waren Frauenorganisationen auch an dem längsten Bauernprotest der Geschichte Indiens beteiligt, der die Regierung zur Zurücknahme eines umstrittenen Gesetzes zur Marktöffnung des Agrarsektors brachte. Frauen hätten vor allem bei der Mobilisierung eine große Rolle gespielt, betont Rukmini Rao.

Insgesamt sei die Frauenbewegung in Indien nicht aus einem Guss: „Sie setzt auf das Prinzip der Pluralität und auf das Recht der Menschen, sich zu organisieren und selbst für ihre Anliegen einzutreten“. Feministische Aktivistinnen im ganzen Land beteiligen sich heute, gerade in Zeiten der Krise und der Repression, noch entschiedener an Kampagnen für die Rechte der schwächsten Gemeinschaften der indischen Gesellschaft.
Auftrieb bekamen die Frauen zuletzt durch den Erfolg der Bäuer:innen Ende 2021: „Die Farmer mit ihrem erfolgreichen Aufstehen gegen die Regierung zeigten uns allen im Land einen Weg und gaben uns die Hoffnung, „that we can resist“, sagt Rukmini Rao. „Und sie haben uns gelehrt: Wir brauchen eine Mobilisierung im großem Maßstab. Und daran arbeiten wir durch unsere vielen Netzwerke.“

 

* Der Text entstand auf Grundlage eines von Dr. Rukmini Rao für die ASW ausgearbeiteten Vortrags von März 2022
** Gesetz über das Recht der Kinder auf freie und obligatorische Schulbildung von 2009, (Right of Children to Free and Compulsory Education Act 2009)
*** Welthungerindex: Anfangs von Welthungerhilfe (WHH) und IFPRI, mittlerweile von WHH und der irischen NGO Concern International auf Basis von Daten diverser UN-Unterorganisationen und der Weltbank erstellt.

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