Wie steht es um die Frauenrechte in Brasilien?

Einige Meilensteine und viele Baustellen

Die Lage von Frauen in Brasilien ist komplex und widersprüchlich. Beim Sekundärschulabschluss und in der Hochschulbildung sind die Frauen den Männern voraus. Dennoch sind sie wirtschaftlich, bei der Arbeit und in der Familie gegenüber Männern benachteiligt und einem hohen Maß an Gewalt ausgesetzt.

Im Folgenden haben wir einige Aspekte der Frauen-Realität in Brasilien zusammengestellt sowie die aus unserer Sicht wichtigsten Etappensiege von Feministinnen. Die „Etappensiege“ stammen aus dem Beitrag  conquistas-do-feminismo-no-brasil von Nossa Causa – „Unsere Sache“.*

 

1932 erhielten Frauen in Brasilien das Wahlrecht (Deutschland 1918). Dies war ein Sieg der feministischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die auch vom Kampf der Frauen in den USA und Europa beeinflusst waren. „Dank Feminismus können Brasilianerinnen heute wählen!“, sagen die Autorinnen.


1962 erlaubte ein Gesetz verheirateten Frauen, ohne Zustimmung ihres Mannes zu arbeiten (Deutschland 1958). Frauen bekamen auch das Erbrecht und die Möglichkeit, im Trennungsfall das Sorgerecht für die Kinder zu beantragen.

1977 wurde die Scheidung in Brasilien zu einer legalen Option. Dennoch blieben geschiedene Frauen stigmatisiert. Dieser soziale Druck hat viele Frauen dazu gebracht, sich für unglückliche und missbräuchliche Ehen zu entscheiden, anstatt die Scheidung einzureichen.

1988 erkennt die neue brasilianische Verfassung nach dem Ende der Militärdiktatur Frauen als den Männern gleichgestellt an. Diese Errungenschaft ist dem Bündnis aus Frauenbewegung und anderen Volksbewegungen für die Demokratie zu verdanken.

2002 wird ein Artikel aus dem Zivilgesetzbuch gestrichen, der Männern die Annullierung der Ehe aufgrund „mangelnder Jungfräulichkeit“ der neuen Ehepartnerin erlaubte.

2006 tritt (unter Lula da Silva) ein wegweisendes Gesetz gegen Gewalt gegen Frauen in Kraft (Gesetz „Maria da Penha“, benannt nach einer fast von ihrem Ehemann ermordeten und 20 Jahre um ihr Recht kämpfenden Frau). Es schafft neue Möglichkeiten, der häuslichen Gewalt vorzubeugen und sie zu bestrafen. Neue Frauenhäuser und neue Frauen-Polizeistationen gehören ebenso dazu wie Polizeischutz für direkt bedrohte Frauen und Workshops für gewalttätige Männer.

2015 wird der Begriff „Feminizid“ in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Dem Gesetz zufolge ist der Feminizid eine besondere Art eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, das mit häuslicher Gewalt oder Verachtung des weiblichen Geschlechts zusammenhängt.

2015 tritt für rund acht Millionen Hausangestellte eine Verbesserung des Arbeitsrechts in Kraft, über die seit 2013 zwischen Regierung, Gewerkschaften und Parlament verhandelt wurde. Auch für sie gelten nun geregelte Arbeitszeiten und sie müssen nicht mehr im Haus der Arbeitgeber wohnen. Mit anderen Berufsgruppen sind sie dennoch nicht gleichgestellt.

2018 wird sexuelle Belästigung von Frauen zu einem Straftatbestand. „Trotz dieser Gesetzgebung, die den Schutz von Menschen aller Geschlechter garantiert, war die Stärke der feministischen Bewegung wesentlich, um sie in der Gesellschaft zu verwirklichen“, sagen die Autorinnen von nossacausa. „Es ist nicht so, dass wir heute nicht mehr unter Belästigung leiden, aber zumindest haben wir jetzt einen Mechanismus, um unser Recht auf ‚Kommen und Gehen‘ zu verteidigen.“


Geschlechter-Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt und in Bezug auf häusliche Pflichten

Insgesamt sind 47% der Frauen erwerbstätig, gegenüber 67% der Männer. (OECD-better-life-index 2020). Wie auch in Deutschland werden sie bei gleichen Tätigkeiten schlechter entlohnt als Männer. Trotz der beruflichen Aktivität der Frauen außerhalb des Hauses wird die geschlechterspezifische Trennung der häuslichen Pflichten beibehalten. Daher sind berufstätige Frauen auch weiterhin für die Betreuung der Kinder, der älteren und der erkrankten Familienmitglieder, sowie für die Erledigung der häuslichen Pflichten zuständig. In den letzten Jahren konnten in diesem Bereich aber schon Verbesserungen beobachtet werden.


Bei Bildung den Männern überlegen

In Brasilien verfügen 57% der Bevölkerung im Alter von 25–64 Jahren über einen Abschluss des Sekundarbereichs II und liegen damit deutlich unter dem OECD-Durchschnitt (79%). Allerdings haben mehr Brasilianerinnen als Brasilianer diesen Abschluss – 60% gegenüber nur 53% der Männer. Und auch beim Hochschulstudium sind Frauen den Männern voraus: 25 Prozent der Frauen im Land schreiben sich an Universitäten ein, bei Männern liegt der Anteil nur bei 18%. (OECD-better-lifeindex 2020). Rund 6 Prozent aller Brasilianerinnen sind Analphabeten. Männer und Frauen liegen hier etwa gleichauf.


Frauenmorde und Vergewaltigungen

Brasilien belegt Platz fünf auf der Skala der Länder mit den meisten Feminiziden weltweit. Zwischen 2009 und 2019 wurden insgesamt 50.056 Frauen ermordet. 67% der ermordeten Frauen waren schwarz. (Fórum Brasileiro de Segurança Pública 2021) Jüngere Zahlen zeigen, dass die Zahl der Frauenmorde vor allem von Februar bis Mai 2020 anstieg, also in der Zeit der „Häuslichkeit“ der Familien infolge der Corona-Einschränkungen. Die Zahl der Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen in Brasilien ist im Jahr 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 3,7% gestiegen. Es wurden 56.098 Fälle registriert, was bedeutet, dass alle zehn Minuten eine Vergewaltigung stattfand. (Fórum Brasileiro de Segurança Pública 2022)


Kein Recht auf Abtreibung

In Brasilien gilt der Schwangerschaftsabbruch als Straftat. Nach Angaben des Nationalen Rates für Justiz (CNJ) wurden im Jahr 2021 411 Fälle vor Gericht verhandelt. Ausgenommen von Strafverfolgung ist Abtreibung, wenn das Leben der schwangeren Frau gefährdet oder der Fötus nicht lebensfähig (Anenzephalie) ist oder wenn die Schwangere vergewaltigt wurde. In diesen Fällen ist ein Abbruch erlaubt, und eine Klinik des staatlichen Gesundheitssystems muss den Eingriff vornehmen.

Die Situation hat sich auch unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Lula da Silva nicht verändert. Aktivistinnen der ASW-Partnerorganisation GMB, Grupo de Mulheres do Brasil vermuten, dass das Thema nicht angefasst wird, weil es moralisch und aus religiöser Sicht heikel ist. Außerdem seien rechtsextreme Strömungen in Brasilien weiterhin stark. Immerhin hat sich die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Rosa Weber, im September 2023 für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ausgespro­chen. Ob das Oberste Gericht nun ein offizielles Verfahren einleitet, ist offen.   


Kinder- und Jugendehen

In Brasilien liegt das gesetzliche Heiratsalter für Männer und Frauen bei 18 Jahren. Frauen und Männer können aber mit 16 Jahren heiraten, wenn beide Elternteile zustimmen. Ausnahmen erlauben es Minderjährigen, im Falle einer Schwangerschaft sogar unter 16 Jahren zu heiraten. Bei der absoluten Zahl der Frauen, die schon im Alter von 15 Jahren verheiratet sind, liegt Brasilien weltweit an vierter Stelle. (www.girlsnotbrides.org)


„Es reicht!“: Männerseminare gegen geschlechtsspezifische Gewalt

Mitarbeiter unserer Partnerorganisation FASE Amazonia haben kürzlich beschlossen, männliche Gewalt gegen Frauen in allen Organisationen und Gemeinden, die von FASE unterstützt werden, auf die Tagesordnung zu setzen. Denn während der Pandemie, so schreibt uns Guilherme Carvalho von FASE, sei das Problem der Gewalt gegen Frauen noch deutlicher geworden. Solange aber Frauen täglich allen Arten von Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt sind, sei an ein gerechtes und demokratisches Brasilien nicht zu denken. Guilherme Carvalho findet „Es reicht!“ und lädt daher alle Männer ein, Verantwortung zu übernehmen und dafür zu kämpfen, diese Situation zu ändern. Er will einen kollektiven Prozess zum „Aufbau neuer Männer“ beginnen, zum Wohle aller, auch der Männer selbst. Der Prozess startete bereits mit einem Workshop im Quilombo Laranjituba, aber es werden noch andere Möglichkeiten geprüft. Der Prozess soll dann auf andere Gemeinden und Städte ausgeweitet werden. „Das Wichtigste ist, den ersten Schritt zu tun. Und alle Männer, die diese Botschaft erhalten, sind eingeladen.“


„Nie wieder Bolsonaro“

Brasiliens organisierte Frauen haben im Herbst 2022 durch ihre Aktionen und ihre starke Mobilisierung zum Wahlsieg des Sozialdemokraten Lula da Silva und zur Niederlage des rechtsgerichteten Präsidenten Bolsonaro beigetragen. Der war schon in seinem Wahlkampf 2018 durch seine extreme Frauenverachtung aufgefallen und hatte auch als Präsident Brasiliens von 2019 bis 2022 Frauen beleidigt und gedemütigt. 

 

*Nossa Causa ist eine von jungen Menschen gegründete Organisation, die sich für die Stärkung der Zivilgesellschaft, die Förderung sozialer Gerechtigkeit und ein demokratisches, egalitäres und faires Brasilien einsetzt.